Das Auge der Fatima
für das Gespräch der Gelehrten. Die Herren sind bereits alle eingetroffen und haben sich um den Tisch der Weisen versammelt, das Mahl wird gerade aufgetragen. Folgt mir, Saddin al-Assim, damit Ihr Euren Platz in ihrer Mitte einnehmen könnt.«
Der »Tisch der Weisen« entpuppte sich als ein etwa dreißig Quadratmeter großer, fensterloser Raum am gegenüberliegenden Ende der Bibliothek. Die Decke war hier niedriger, auf kleinen Mauervorsprüngen standen Lampen aus Messing und spendeten Licht. Das Mobiliar war einfach und machte einen beinahe schäbigen Eindruck. Die Steinfliesen waren mit verschlissenen Teppichen und ausgeblichenen Polstern bedeckt, die ihre besten Tage schon lange hinter sich hatten. Und die niedrigen Tische waren abgestoßen und verschrammt. Überall standen achtlos abgestellte Tabletts herum, beladen mit Obst, Gemüse und Käse, Teller mit Brot, dampfende Schüsseln und Krüge. Und daneben stapelten sich Bücher. Es waren Unmengen von Büchern - dicke, dünne, große und kleine. Etwa ein Dutzend Männer hatten sich hier versammelt. Sie diskutierten laut und hitzig, fielen einander ins Wort, blätterten dabei immer wieder in den Büchern und machten sich eifrig mit kleinen Kohlestücken Notizen, während sie sich ganz nebenbei und scheinbar wahllos die Speisen in den Mund stopften. Es war ein Bild, wie Beatrice es noch aus der Mensa im Universitätskrankenhaus in Hamburg kannte. Auch dort hatten sich die Studenten an wackligen Tischen zusammengefunden, Fälle diskutiert, die Prüfungsfragen erörtert und die Wälzer zur Inneren Medizin, Pharmakologie oder Chirurgie zu Rate gezogen und es irgendwie fertig gebracht, sich nicht an den Splittern und Rissen im Sperrholz zu verletzen. Das Essen war dabei nichts anderes als die notwendige und daher unumgängliche Nahrungsaufnahme zur Erhaltung der Gehirnfunktion. Der Geschmack des einheitlich braunen und zerkochten Breis auf den Plastiktrögen war - wenigstens beinahe - egal. Das sperrmüllreife Design des Mobiliars - Nebensache. Kein Wunder also, dass die Mensa der Mediziner in Hamburg den schlechtesten Ruf von allen hatte. Hoffentlich war hier in Gazna wenigstens das Essen besser. Immerhin war sie mit den Jahren anspruchsvoller geworden.
»Willkommen, Saddin al-Assim«, sagte Abu Rayhan so laut, dass mit einem Schlag alle Gespräche verstummten und sich ein Dutzend Augenpaare gleichzeitig auf sie richteten. Er erhob sich von seinem Platz und kam ihr sogar ein paar Schritte entgegen.
Beatrice verneigte sich.
»Ich danke Euch, dass Ihr mich eingeladen habt, an Eurer Runde teilzunehmen«, sagte sie, vermied es jedoch, jemanden dabei ins Gesicht zu sehen. Sie hatte das Gefühl, dass die Blicke der anderen Gelehrten sie förmlich durchbohrten, neugierig, fast feindselig.
»Eingeladen? Hört, hört!«, rief auch sofort ein erstaunlich korpulenter Mann mit schneidender Stimme. Seinem Akzent und seiner Kleidung nach zu urteilen stammte er aus dieser Gegend. »Ihr solltet zuerst unter Beweis stellen, dass Ihr Euch diesen Platz verdient habt, Saddin al-Assim.«
Beatrice schluckte. Auch das noch. Sollte sie jetzt etwa eine Prüfung ihres Könnens ablegen? Ihr blieb doch wirklich gar nichts erspart.
»Ein Ansinnen, das mein Verständnis und meine Zustimmung findet«, erwiderte sie und lächelte. Dieser arrogante Kerl sollte doch nicht glauben, dass sie sich von ihm einschüchtern ließe. »Bitte, stellt mir Eure Fragen, und gebt mir somit die Gelegenheit, mich Eurer Gemeinschaft würdig zu erweisen.«
Während sie sich verneigte, fragte sie sich, woher sie eigentlich diese Kaltblütigkeit nahm. Eine falsche Antwort, und ihre bisherigen Bemühungen wären umsonst gewesen. Bestenfalls würde sie dann die kommende Nacht wieder in Ma- leks Haus verbringen und von vorne anfangen. Sie warf Abu Rayhan einen kurzen Blick zu. Er lächelte zuversichtlich. Offenbar glaubte er fest daran, dass sie diese Prüfung bestehen würde. Wenn sie doch nur selbst auch so optimistisch wäre.
»Woher stammt Ihr, Saddin al-Assim?«
»Aus El-Andalus.«
»Man sagt, Ihr seid Arzt?«, fragte Abu Rayhan, und Beatrice dankte ihm im Stillen dafür. Offensichtlich hatte er die Absicht, die anderen so schnell wie möglich von dem für sie durchaus verfänglichen Thema Andalusien abzulenken.
»Ja.«
»Oh, ein Kollege! So könnt Ihr mir sicher die Doshas und ihre Merkmale nennen, nach denen sich die Menschen und ihre Erkrankungen einteilen lassen, nicht wahr?«
Der Mann, der diese
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