Das Auge der Fatima
führen. Deshalb hat man Subuktakin auch die ehrenvollen Beinamen Beschützer der Gläubigem, >Vater der Gottesfürchtigen< und >der Gerechte< gegeben.«
Beatrice schluckte. Das war mehr als deutlich. Wer sich nicht fügen wollte und dabei erwischt wurde, landete also in den Folterkammern von Gazna und schließlich vor dem Henker. Und irgendein anderer Höfling freute sich über eine stattliche Belohnung oder Beförderung, weil er seinen Nachbarn verpfiffen hatte - ganz egal, ob der nun wirklich schuldig war oder nicht. Wunderbare Aussichten. Unwillkürlich griff sie sich an den Kragen. Aus einem unerklärlichen Grund schien ihr Gewand plötzlich enger geworden zu sein. Wer hatte eigentlich diese blödsinnige Idee gehabt, sie als Mann verkleidet an den Hof des Emirs zu schicken, wo hinter jeder Truhe und in jeder Nische Spitzel und Verräter lauerten?
»Ist Euch nicht wohl, Saddin al-Assim?«, fragte Abu Rayhan, und Beatrice schoss der beängstigende Gedanke durch den Kopf, dass er möglicherweise ebenfalls zu den Spionen gehörte. Und vielleicht kam sie jetzt gerade recht, damit er seinen Kopf aus einer bereits für ihn geknüpften Schlinge ziehen konnte? Allerdings sah er sie so mitfühlend an, dass es ihr schwer fiel, daran zu glauben.
»Ich kann Euch verstehen«, sagte er leise und nippte wieder an seinem Wasser. »Das Leben hier in Gazna ist voller Steine und Hindernisse für einen ehrlichen Mann. Oft genug ist der Mund gezwungen, Ja zu sagen, selbst wenn das Herz Nein meint. Ich hoffe, dass ich Euch hiermit alle Fragen beantwortet habe.«
Beatrice nickte. »Ja, ich danke Euch - für Eure Ratschläge ebenso wie für das vorzügliche Mahl«, sagte sie und erhob sich. »Ich sollte jetzt wohl besser gehen. Das Mittagsgebet ist nicht mehr fern, und bei seinem Dienst für Allah sollte ein Mann ungestört sein.«
»Gut gesprochen, Saddin al-Assim«, erwiderte Abu Rayhan. Ihre Blicke trafen sich, und in diesem Moment wusste Beatrice, dass er von erzwungenen religiösen Pflichten dasselbe hielt wie sie. »Doch bevor Ihr geht, möchte ich Euch noch den Rat eines Freundes mit auf den Weg geben. Der ehrgeizige Schreiber unseres ehrwürdigen Herrschers Subuktakin, ein Mann mit dem Namen Abu Said, brüstet sich damit, dass sein Vater aus El-Andalus stammt. Solltet Ihr ihn jemals treffen, so vermeidet dieses Thema. Abu Said ist ein seltsamer, starrsinniger Mensch, und es könnte sein, dass er Teilen Eurer Erzählung keinen Glauben schenkt.«
Beatrice spürte, dass sie rot wurde. Jetzt war es amtlich. Abu Rayhan hatte sie tatsächlich durchschaut.
»Ich weiß nicht ... würde Euch gern ... aber ...«, stammelte sie.
Doch er schüttelte den Kopf und legte ihr eine Hand auf die Schulter. »Nein, Saddin al-Assim, behaltet für Euch, was Ihr jetzt sagen wollt. Was Ihr verschweigt, kann auch kein anderer ausplaudern. Nicht einmal unter der liebevollen Aufmerksamkeit unseres Herrschers«, sagte er lächelnd. »Geht,
Saddin al-Assim, der Friede Allahs sei mit Euch. Wir sehen uns nachher in der Bibliothek. Euer Diener wird Euch hingeleiten.«
Beatrice erreichte mit Yassir ihr Zimmer gerade noch rechtzeitig, bevor die Stimme des Muezzins laut über Gazna erschallte. Vermutlich wurden in ungezählten Zimmern hier im Palast jetzt die Gebetsteppiche ausgerollt. Wenn sie Abu Rayhan richtig verstanden hatte, so war man nur während der Gebetszeiten vor den Spitzeln sicher. Welcher Verräter würde es auch wagen, dem zutiefst religiösen Herrscher zu erklären, er habe die Zeit des Gebetes genutzt, um anderen hinterherzuspionieren, anstatt seine heilige Pflicht zu erfüllen?
Yassir hatte das Zimmer verlassen. Es war nicht üblich, dass ein Diener und sein Herr die Gebetszeiten gemeinsam verbrachten. Während der eintönige Singsang alle anderen Geräusche verstummen ließ, trat Beatrice ans Fenster. Natürlich hatte Abu Rayhan Recht. Wenn sie ihm nichts von ihren wahren Beweggründen erzählte, konnte er selbst unter der Folter nichts verraten. Doch fragte sie sich, wie er ihr dann bei der Suche nach Michelle helfen sollte. Schon bald würde sie ihn wohl oder übel einweihen müssen - und somit unweigerlich einer vermutlich tödlichen Gefahr aussetzen.
Beatrice seufzte. Sie war zwar wie gewünscht im Palast aufgenommen worden, doch wie sie jetzt ihre Nachforschungen fortsetzen sollte, war ihr ein Rätsel. Wo sollte sie ihre Suche nach Michelle beginnen? Ihre Hand glitt in die Hosentasche, und sie umschloss den Stein der Fatima
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