Das Auge der Fatima
»Nachrichten von Verschwörung, Verrat und noch schlimmeren gottlosen Taten.« Unwillkürlich wich sie einen Schritt zurück. Gleich würde es so weit sein. Gleich würde man sie verhaften und sie vor den Richter zerren. Welche Strafe wurde wohl hier in Gazna für Betrug verhängt? Der Tod durch Steinigung? Vielleicht sollte sie fliehen, solange sie noch Zeit dazu hatte. Oder sollte sie bleiben und sich wehren? »Nuraddin, mein geliebter Bruder, ist nicht mehr. Er wurde hinterrücks ermordet.«
Einige der Gelehrten erhoben sich vor Erregung von ihren Polstern. Andere begannen zu klagen oder schlugen sich, laut um Allahs Beistand flehend, die Hände vor das Gesicht. Beatrice hingegen wurden die Knie weich - vor Erleichterung. Sie kannte diesen Nuraddin nicht. Und dass er gestorben war, tat ihr wirklich Leid. Allerdings hätte die Nachricht seines Todes zu keinem besseren Zeitpunkt kommen können. Ihr hatte das den Job im Palast des Emirs gerettet, wahrscheinlich sogar das Leben.
»Ruhig, Brüder, seid ruhig«, sagte Abu Rayhan und gebot seinen Kollegen mit einer Geste zu schweigen. Dann wandte er sich wieder Hassan zu. »Mir fehlen die Worte, um Euch meinen Schmerz und meinen Zorn über diese ruchlose Tat auszudrücken, Hassan. Ich weiß, wir sind nur Gelehrte, die sich mehr auf die Schriften denn auf das Kriegshandwerk verstehen, doch solltet Ihr unsere Hilfe bei der Aufklärung dieses Verbrechens benötigen, so werden wir Euch beistehen.« Er verneigte sich.
»Ich danke dir, Abu Rayhan, aber wir kennen die Täter bereits«, sagte Hassan. Beatrice hatte den Eindruck, dass er vor Zorn fast überschäumte. »Es handelt sich um eine Verschwörung, die sich gegen alles richtet, was heilig und ehrenhaft ist. Die Ketzer haben gedungene Räuber damit beauftragt, meinem Bruder in der Wüste aufzulauern und ihn zu töten. Doch wir kennen bereits viele Namen und Gesichter der Verräter, und unter der Befragung werden diese die Namen jener preisgeben, die uns noch nicht bekannt sind. Wir haben den heiligen Schwur geleistet, dafür zu sorgen, dass sie alle für ihre ruchlosen Taten sühnen.« Er berührte kurz den goldfarbenen Griff seines Säbels. »Zum Ausdruck der Trauer über den Tod meines geliebten Bruders und zum Zeichen des heiligen Gedenkens an ihn hat mein Vater ein Schweigen angeordnet, das bis zum Sonnenaufgang andauern soll. Außerdem finden von dieser Stunde an keine Versammlungen mehr statt, die Geschäfte in den Basaren bleiben geschlossen, und die freitäglichen Besuche der Ärzte bei den Armen fallen aus. Jeder Bewohner der Stadt soll fasten, bis der schändliche Mord an meinem Bruder gerächt ist. Die ganze Stadt hüllt sich in eine heilige Trauer, bis auch der Letzte der Frevler mit seinem Blut bezahlt hat und sein Kopf die Zinnen unseres Palastes schmückt. Möge dies all jenen zur Abschreckung dienen, die es wagen, die heiligen Gebote Allahs mit Füßen zu treten.«
Welch ein Pathos, welch eine Übertreibung. Beatrice schüttelte unmerklich den Kopf und verdrehte die Augen. Hassan kam ihr vor wie einer dieser Fernsehprediger, die - mit erhobener Stimme und so viel Enthusiasmus, dass man meinen konnte, die Auferstehung aller Seelen stünde unmittelbar bevor - unablässig »Halleluja« und »Amen« riefen. Allerdings konnte ihr diese Entwicklung nur recht sein. In den nächsten Stunden würde sie Gelegenheit haben, sich in der Bibliothek umzusehen, ohne dabei lästige oder gar gefährliche Fragen beantworten zu müssen. Sogar der geschwätzige Reza würde sich an das Schweigegebot halten müssen, wenn er nicht im Kerker landen wollte. War das wirklich Glück - oder war es Fügung?
Abu Rayhan verneigte sich wieder.
»Herr, ich bin sicher, dass keiner von uns die Absicht hat, das heilige Schweigen zu brechen. Zu mächtig und zu tief ist die Trauer, die durch die Nachricht vom Tod Eures geliebten Bruders unsere Herzen ergriffen hat.«
Einige der Gelehrten stimmten durch Zwischenrufe zu, andere nickten nur beifällig.
»Das freut mich zu hören«, erwiderte Hassan. »Auf den Basaren erzählt man sich nämlich bereits, dass sich diese verfluchten Ketzer auch in den Reihen der Gelehrten von Gazna verbergen sollen. Natürlich sind das nur Gerüchte. Das Gerede von Menschen, denen Bildung fremd und die vielfältigen Künste der Gelehrten unbekannt und unheimlich sind. Doch wie Ihr wisst, enthält das Geschwätz der Händler und Barbiere oft genug auch ein Körnchen Wahrheit. Seid deshalb nicht beunruhigt,
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