Das Auge der Fatima
Frage stellte, war sehr dünn. Und obwohl auch er auf einem der niedrigen Polster saß, war deutlich zu erkennen, dass er wesentlich größer war als die anderen. Er trug muslimische Kleidung, und sein gepflegter Vollbart reichte ihm bis zur Brust, doch seine Haut war dunkel, und er sprach mit einem so starken Akzent, dass Beatrice ihn kaum verstehen konnte. Vermutlich ein Inder, den es - aus welchen Gründen auch immer - nach Gazna verschlagen hatte.
Na wunderbar, dachte Beatrice. Das fängt ja gut an. Ausgerechnet über ayurvedische Medizin wusste sie so gut wie nichts. Trotzdem hob sie ihr Kinn und sah dem Mann gerade in die Augen.
»Ich weiß, dass man die drei Doshas Vata, Kapha und Pitta nennt und dass ein Gleichgewicht derselben anzustreben ist«, sagte sie und klaubte mühsam aus ihrem Gedächtnis zusammen, was sie in den Frauenzeitschriften gelesen hatte, die im Aufenthaltsraum der Notaufnahme auslagen. Vergeblich. Die »Gesundheitsrubriken« überblätterte sie meist. Sie waren nur selten gut recherchiert. »Allerdings endet hiermit auch schon mein Wissen über die ayurvedische Medizin.«
»Das ist nicht viel für jemanden, der von sich behauptet, Arzt zu sein«, sagte der Inder und verzog verächtlich die Mundwinkel. »Wer sich der Behandlung von Kranken widmen will, sollte wenigstens über umfangreichere Kenntnisse in der Heilkunde verfügen als ein Barbier.« Er warf einen Blick in die Runde und erntete Gelächter. Beatrice wurde wütend.
»Sofern Ihr die ayurvedische Medizin Eures Heimatlandes mit der Heilkunde im Allgemeinen gleichsetzt, mögt Ihr Recht haben. Da wo ich herkomme konzentriert man sich jedoch auf andere Aspekte der Heilkunde, wie sie zum Beispiel in der Tradition der hellenistischen und arabischen Schule gelehrt werden. Ich persönlich habe mich bei meinen Studien dem Gebiet der Chirurgie gewidmet. Ich weiß natürlich, dass die ayurvedische Medizin den Patienten in vielen Fällen Linderung ihrer Leiden und manchmal sogar Heilung bringt, doch wenn ich offen sein darf, würde ich eine Pfeilwunde lieber mit einer guten, sauberen Naht als mit einem warmen Ölguss und exotisch gewürzten Speisen behandeln.«
Ihr Blick streifte kurz die anderen Gelehrten. Einige nickten zustimmend, andere sahen sie neugierig an, gespannt darauf, wer wohl diesen Disput gewinnen würde. Das Gesicht des Inders verfinsterte sich.
»Nun, wir werden ja sehen, welche Methode der anderen überlegen ist«, sagte er. »Hochmut steht einem Gelehrten nicht gut zu Gesicht, Saddin al-Assim.«
»Ihr sagt es. Darin bin ich ganz Eurer Meinung. Allerdings sprach ich nicht von der Überlegenheit einer der beiden Behandlungsmethoden, sondern lediglich von ihren Grenzen. Und davon, dass sie sich gegenseitig vorzüglich ergänzen können. Ich bin sicher, die anwesenden Kollegen haben mich sehr wohl verstanden.«
Abu Rayhan hustete. Möglicherweise hatte er sich verschluckt, doch in Beatrices Ohren klang es eher nach einem mühsam unterdrückten Lachen. Vielleicht mochte er den Inder auch nicht.
»Will sich noch jemand ...«, begann Abu Rayhan, doch er wurde von einer klaren, angenehmen Stimme unterbrochen, und mit einem Schlag wurde es still im Raum. Es war so still, dass man Rezas schlurfende Schritte aus den Tiefen der Bibliothek hören konnte.
»Saddin al-Assim ibn Assim, Ihr sagt, Ihr hättet Euch mit der Chirurgie beschäftigt.« Beatrice war überrascht, als sie sah, dass die Stimme zu einem alten Mann gehörte. Er musste sehr alt sein, denn sein Gesicht war runzlig, und die Haut wirkte dünn und trocken wie Reispapier. Bedächtig und erstaunlich akzentuiert kamen die Worte aus seinem zahnlosen Mund. Und jeder, sogar der arrogante Inder, schien wie gebannt an seinen Lippen zu hängen. Auch Beatrice wartete voller Spannung auf die nächsten Worte des Alten, als würde das Schicksal der ganzen Menschheit von dem abhängen, was er sagen wollte. Es war wie eine Hypnose. Sie war nicht einmal mehr in der Lage, den Blick von ihm abzuwenden. In seinem weiten Gewand wirkte er klein, mager und gebrechlich, als könnte ihm bereits eine heftige Windböe gefährlich werden. Er schien sogar so schwach zu sein, dass er sich beim Sprechen auf einen Stock stützen musste, einen knorrigen, von Sand und Sonne geblichenen und durch häufige Benutzung blank polierten Ast von der Dicke eines Männerarms. Und doch ging eine Kraft und Vitalität von dem Alten aus, die beinahe erschreckend war. Es dauerte eine Weile, bis Beatrice begriff,
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