Das Auge der Fatima
zwischen den eng nebeneinander stehenden Regalen nicht zu denken. Beatrice biss die Zähne zusammen und runzelte zornig die Stirn. Am liebsten hätte sie Reza in Grund und Boden gestampft, doch sie bezwang sich. Sie durfte das Schweigen nicht brechen, unter gar keinen Umständen. Wütend starrte sie den Bibliothekar an, der sich jedoch überhaupt nicht aus der Ruhe bringen ließ. Im Gegenteil. Statt zur Seite zu treten und ihr den Weg freizugeben, entblößte er nur seine schiefen gelben Rattenzähne zu einem Lächeln. Es war ein widerliches, wissendes Grinsen voller Häme und Triumph. Dann trat er endlich beiseite und ließ Beatrice mit einer übertriebenen Verbeugung an sich vorbei.
Auf dem ganzen Weg durch die Bibliothek blieb Reza dicht hinter ihr. Beatrice spürte seine Blicke in ihrem Nacken, und seine hastigen, schlurfenden Schritte klangen in ihren Ohren. Sie versuchte ruhig zu bleiben - wenigstens äußerlich. Doch ihre Hände waren so feucht, dass sie in regelmäßigen Abständen Schweißtropfen auf dem Boden hinterließ. Diverse Film- und Buchszenen flimmerten durch ihren Kopf - wie immer zum unpassendsten Moment. Sie dachte an Filme und Bücher wie Das Schweigen der Lämmer, Sieben, Hannibal, Der rote Drache, Knochenjäger und Das Parfüm. Wohl hunderte von Psychopathen geisterten durch die Film- und Literaturgeschichte, die genau in diesem Augenblick alle aus den Tiefen ihrer Erinnerungen emporgekrochen kamen, um sie zu erschrecken. Doch dies hier war keine Filmszene. Sie war wirklich hier, in dieser dunklen, verlassenen Bibliothek, und hinter ihr schlurfte dieser Verrückte her. Jede Sekunde rechnete sie damit, dass er sich mit einem animalischen Schrei auf sie stürzen würde. Dabei wäre ein Dolch im Rücken vermutlich noch das geringste Übel. Ebenso gut konnte er sie bewusstlos schlagen und in ein finsteres Loch sperren, wo er sie verhungern ließ oder folterte oder eine andere, besonders ekelhafte Todesart für sie vorbereitet hatte.
Beatrice versuchte sich an alle Regeln zu halten, die - den einschlägigen Filmen und Büchern zufolge - im Umgang mit gewaltbereiten Psychopathen galten: Verhalte dich ruhig. Sei selbstbewusst. Vermeide hektische, unerwartete Bewegungen. Und zeige vor allem keine Angst.
Die haben gut reden, dachte sie und bemühte sich nach Leibeskräften, ihre Beine davon abzuhalten, einfach loszulaufen. Diesen Schreiberlingen sollte man gehörig auf die Finger klopfen. Offensichtlich haben sie selbst niemals eine derartige Situation erlebt.
Ganz normal, so als wäre nichts Besonderes geschehen, ging Beatrice an den endlosen Regalreihen entlang. Doch Reza ließ sich nicht abschütteln. Er war dicht hinter ihr und kam immer näher. Sie hörte sogar schon seine schnellen Atemzüge. Sie klangen erregt, angespannt, so als würde jeden Augenblick der dünne Spinnfaden reißen, der noch seinen krankhaften Trieb zügelte. Vielleicht war Reza nicht nur manisch, vielleicht hörte er geheimnisvolle Stimmen, die ihm gerade jetzt befahlen, dem seltsamen Mann, der sich Saddin al- Assim ibn Assim nannte, die Kehle durchzuschneiden. Wie viele Fremde mochte er wohl schon in der Stille und Dunkelheit der Bibliothek beseitigt haben? Wie viele Leichen ruhten unter den Steinplatten der Bibliothek? War Ali vielleicht eine von ihnen?
Endlich sah sie die Tür, sie war kaum zehn Meter von ihr entfernt. Beatrice schöpfte neue Hoffnung. Wenn sie es bis dahin geschafft hatte, wenn es ihr gelingen würde, die Tür zu öffnen und die Bibliothek zu verlassen, würde sie in Sicherheit sein. Reza würde bestimmt nicht den Schutz der Bibliothek verlassen, ihr kreuz und quer durch den Palast folgen und sich dabei der drohenden Gefahr einer Entdeckung durch die Palastwachen aussetzen.
Es waren höchstens noch fünf Meter bis zur Tür. Allmählich musste es auch Reza klar sein, dass seine Beute ihm unweigerlich durch die Lappen ging, wenn er nicht bald handelte. Instinktiv bereitete Beatrice sich darauf vor, sich gegen einen Angriff zu verteidigen oder loszulaufen. Sie versuchte zu erraten, wo Reza gerade war und was er gerade tat. Allerdings wagte sie es nicht, sich umzudrehen und ihn anzusehen. Diese Geste konnte eine der Regeln im Umgang mit Psychopathen verletzen. Mit unabsehbaren Folgen.
Und dann stand sie endlich vor der Tür und umklammerte den kalten Griff aus Eisen mit beiden Händen. Sie zog mit aller Macht. Schließlich hing ihr Leben davon ab, ob es ihr gelingen würde, die Tür innerhalb der
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