Das Auge der Fatima
Irgendwo in der Bibliothek, vor ihren Augen durch Regale und Säulen verborgen, stand er und blätterte in einem Buch. Doch in der Dunkelheit und Stiile klang das Knistern der Seiten eher wie das Rascheln von Nagetieren zwischen dem Pergament, und seine hastigen, schlurfenden Schritte hörten sich an wie das Getrappel von Rattenfüßen. Sie konnte nicht einmal sagen, welcher Gedanke sie mehr in Panik versetzte - die Vorstellung, dass sie in der riesigen Bibliothek allein mit einem Psychopathen war oder dass eine Horde von fetten, gefräßigen, bösartigen Ratten sie aus der Dunkelheit heraus belauerte.
Warum bist du eigentlich noch hier? Du könntest jetzt ebenso gut in deinem warmen, weichen Bett liegen und dich morgen bei Tageslicht ans Werk machen. Frisch und ausgeschlafen und ohne Geräusche und Fantasien, die einem Horrorfilm entsprungen sein könnten. Warum tust du dir das an?
Diese Frage stellte sie sich bereits zum wiederholten Mal in dieser Nacht. Doch die Antwort kannte sie nur zu gut. Sie lag für jeden auf der Hand, der rechnen konnte. Seit ihrer Ankunft in der Wüste waren inzwischen etwas mehr als vier Wochen vergangen. Von dem ausgehend, was Yasmina ihr erzählt hatte, war Michelle mindestens zwei Monate länger hier. Das waren über drei Monate, in denen sich ihre Tochter in einem fremden Land, einer fremden Zeit zurechtfinden musste, ständig auf der Flucht vor den Fidawi. Ihr kleines Mädchen war der Willkür und dem Hass dieser brutalen Männer schutzlos ausgeliefert. Sie kannte die Sprache nicht, sie verstand nicht, was mit ihr geschehen und wo ihre Mama abgeblieben war. Und sie hatte bestimmt Angst. Nein, Beatrice hatte keine Zeit mehr, die sie mit Schlaf vertrödeln konnte. Jede Stunde war kostbar, jede Minute zählte. Selbst wenn sie vor Müdigkeit Kopfschmerzen bekam und vor Kälte am ganzen Leib zitterte, sie durfte nicht aufhören.
Seit Hassan die Besprechung der Gelehrten unterbrochen hatte, hatte sie die Bibliothek nur zweimal verlassen. Sie hatte am Abendgebet teilgenommen und auch noch das Nachtgebet besucht, um durch ihre Abwesenheit nicht jetzt schon den Verdacht der anderen auf sich zu lenken. Nach dem Nachtgebet hatte sie Yassir zu verstehen gegeben, dass sie noch zu arbeiten habe und er daher ihr Bett nicht zu richten brauche. Und dann war sie erneut in der Bibliothek verschwunden.
Sie schloss für einen kurzen Moment ihre brennenden Augen und rieb sich die Nasenwurzel. Sie hatte gerade den Tiefpunkt erreicht, der sich regelmäßig während Nachtdiensten einstellte. In der Notaufnahme hatte sie ihre Strategien dagegen. Es gab Freunde und Kollegen, mit denen man sich unterhalten konnte, starken Kaffee in rauen Mengen und natürlich den Job, der genügend Adrenalin durch die Adern pumpte, um selbst aus der tiefsten Krise innerhalb weniger Sekunden wieder herauszufinden. Doch was gab es hier außer Stille und Dunkelheit? Sie war allein mit einem verrückten Bibliothekar und einer Unmenge staubiger Bücher.
Beatrice schüttelte sich und konzentrierte sich wieder auf das Buch, das vor ihr auf dem Lesepult lag. Den ganzen Tag hatte sie gebraucht, um herauszufinden, nach welchen Kriterien die Bücher geordnet waren. Einige Regale dicht beim Eingang waren noch nach Autoren und Wissensgebieten geordnet, doch dieses System verlor sich rasch, je weiter man in die Tiefen der Bibliothek vordrang. Die meisten Regale wirkten einfach nur willkürlich vollgestellt, so als hätte hier jemand aufgeräumt, der nicht lesen konnte. Erst gegen Abend war sie dahinter gekommen, dass Reza während seiner Amtsperiode damit begonnen hatte, die Bücher einfach nach dem Zeitpunkt ihres Eintreffens in Gazna zu sortieren. Dabei hatte sich der Bibliothekar noch nicht einmal die Mühe gemacht, die Sprachen zu unterscheiden, in denen die Bücher verfasst waren. Das vereinfachte ihre Suche nicht gerade - wonach auch immer.
Ziel- und planlos ging sie die langen Reihen der Regale ab, leuchtete mit ihrem Talglicht auf die Buchrücken, nahm hier und da einen der Bände heraus, der ihr interessant erschien, und las ein wenig darin, sofern er in lateinischer oder griechischer Sprache verfasst war. Im Moment hatte sie ein Werk des Pythagoras vor sich, das sowohl in arabischer als auch lateinischer Sprache geschrieben war. Sie konnte selbst nicht sagen, was sie in diesem Buch zu finden gehofft hatte, warum sie sich überhaupt die Mühe gemacht hatte, die schmale, wacklige Leiter hinaufzusteigen und das Buch aus dem
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