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Das Auge der Fatima

Das Auge der Fatima

Titel: Das Auge der Fatima Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franziska Wulf
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Regal zu nehmen. Wie konnte ihr der berühmte griechische Mathematiker und Philosoph bei ihrem Problem behilflich sein? Sie seufzte. Bei dieser chaotischen Suchmethode ohne jedes System war es kein Wunder, dass sie bisher nichts gefunden hatte.
    Müde und frustriert klappte sie es nach einer Weile wieder zu und ging zu der Regalreihe zurück, aus der sie es genommen hatte. Mühsam, das Buch unter den Arm geklemmt, das flackernde Talglicht in der einen, die wurmstichigen Sprossen in der anderen Hand, kletterte sie die Leiter zum wohl hundertsten Mal in dieser Nacht empor. Ihre Beine waren mittlerweile schwer wie Blei, und bei jedem Schritt rechnete sie damit, ins Leere zu treten. Dass sie nicht schon längst mit gebrochenen Knochen auf den Steinfliesen lag, grenzte bei dem Zustand der Leiter ohnehin fast an ein Wunder. Doch das morsche Ding hielt wider Erwarten auch diesmal. Unversehrt kam Beatrice oben an und stellte den Wälzer in das Regal zurück.
    Erneut hob sie das Talglicht und leuchtete die Buchrücken entlang. Sie hatte eigentlich keine Hoffnung, diesmal etwas Brauchbares zu finden, aber aufgeben mochte sie auch nicht. Und plötzlich, als sie bereits die Leiter wieder hinuntersteigen und sich einem anderen Regal zuwenden wollte, wurde sie stutzig. Etwas an den Büchern, die gerade vor ihr standen, kam ihr bekannt vor. Etwas fiel ihr ins Auge, stach von den hunderten von Buchrücken ab, die sie an diesem Tag und in dieser Nacht schon betrachtet hatte. Etwas, das sie offenbar schon vorhin im Unterbewusstsein registriert haben musste. Etwas, dass sie letztlich dazu bewogen hatte, gegen jede Logik den Pythagoras herauszuziehen. Doch was war es? Nachdenklich nahm Beatrice das nächste Buch in die Hand. Es war ein Werk des Aristoteles, ein schmaler, unscheinbarer Band ohne irgendwelche Besonderheiten. Dennoch regte sich etwas in ihr, etwas, das Ähnlichkeit hatte mit der vagen Erinnerung an einen Traum in den Sekunden nach dem Aufwachen. Sie stellte den Band wieder zurück und sah sich die nächsten an - Hippokrates, Seneca, wieder Aristoteles, Al-Farabi. Beatrice schaute überrascht auf. Wieso konnte sie plötzlich die arabische Schrift lesen? Woher wusste sie, dass diese hübsch anzusehenden Schnörkel die Silben »al-fa-ra-bi« bildeten? Da sie keine hellseherischen Fähigkeiten besaß und auch nicht so recht an göttliche Erleuchtung glauben mochte, gab es darauf nur eine logische Antwort. Sie kannte dieses Buch, woher auch immer. Ihr Herz begann plötzlich heftig zu schlagen, und zögernd, als könnte das Buch ihr in die Hand beißen, schlug sie die erste Seite auf. Das Werk war in arabischer Schrift verfasst. Allerdings enthielt es nicht nur die gleichmäßig geschriebenen Zeilen seines Urhebers. Überall, zwischen den Zeilen, an den Seitenrändern und in jeder erdenklichen Textlücke standen Notizen. Manchmal war es nur ein Wort, manchmal gleich mehrere Sätze hintereinander, winzige, hastig mit schwarzer Tinte dahingekritzelte Zeichen. Natürlich konnte sie nicht lesen, was dort stand, aber sie erkannte die Schrift. Auf den ersten Blick.
    Beatrice schloss die Augen. Sie sah ein Arbeitszimmer vor sich. Es war ein .Raum mit einem niedrigen Schreibtisch, einigen Sitzpolstern und einem Schrank voller Kräuter, Tinkturen und medizinischer Instrumente. Das Beeindruckendste jedoch war das große Regal, das fast die ganze Breite der Wand einnahm und so mit Büchern voll gestopft war, dass es fast unter ihrem Gewicht zusammenzubrechen drohte. Es war Alis Arbeitszimmer in Buchara. Denn diese Notizen im Werk von Al-Farabi hatte niemand anderer als Ali al-Hussein geschrieben, ihr Ali. Natürlich wusste sie jetzt, weshalb ihr die Bücher so vertraut vorgekommen waren und weshalb sie sich überhaupt mit dem Pythagoras herumgeschlagen hatte. Alle Bücher, die hier in diesem Regal standen, hatten einst Ali gehört.
    Beatrice klappte das Buch zu und presste es an sich wie ein Ertrinkender einen Rettungsring. Wie oft hatten sie und Ali zusammengesessen und über Fragen diskutiert, die das Lesen der Werke des Aristoteles oder des Hippokrates aufgeworfen hatten? Wie oft war über diese Gespräche schon die Morgendämmerung angebrochen, bevor sie endlich ins gemeinsame Bett gefunden hatten? Und wie oft hatte sie Ali dabei beobachtet, wenn er sich während ihrer Diskussionen hastig Notizen machte und dabei die Feder so flink über das Pergament huschte, dass er manchmal sogar vergaß, sie rechtzeitig in das Tintenfass zu

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