Das Auge der Fatima
nächsten Sekunden zu öffnen.
Und wenn sie verschlossen ist?, schoss es ihr durch den Kopf. Wenn du dich gleich umdrehst und er voller Schadenfreude mit dem Schlüssel winkt? Dann bist du verloren.
Ein Schrei machte sich in ihr bereit, als die innere Panik so übermächtig wurde, dass ihr beinahe schon schwarz vor den Augen wurde. Doch es gelang ihr, sich zu beherrschen. Sie musste einen kühlen Kopf bewahren, egal, was passieren würde. Und dann geschah das Wunder - die Tür bewegte sich in ihren Angeln. Sie war nicht abgeschlossen. Allerdings war sie schwer, und es kostete Beatrice große Anstrengung, sie auch nur einen Spaltbreit zu öffnen. Doch nun kam ihr ein neuer, beängstigender Gedanke. Vielleicht war dies der Augenblick, auf den Reza gewartet hatte? Sie war jetzt abgelenkt. Sie konzentrierte sich auf das Öffnen der Tür und wähnte sich bereits in Sicherheit. Jetzt zuzuschlagen würde für Reza ein Höchstmaß an Triumph bedeuten, einen Höhepunkt seiner Macht. Und sie wäre eine besonders leichte Beute.
Beatrices Herz klopfte wie eine Kesselpauke. Jeder einzelne Schlag dröhnte in ihren Ohren und in ihrem Brustkorb, als würde sie bei dem Konzert einer Heavymetal-Band direkt neben den Lautsprechern stehen. Langsam, unendlich langsam wie in Zeitlupe schwang der Türflügel weiter auf und gab den Blick auf ein Panorama frei, das Beatrice in seiner Unschuld und Harmlosigkeit vorkam, als wäre ein Stück vom Garten Eden auf die Erde gefallen. Vor ihr lag der breite Gang, durch den sie vor Stunden zur Bibliothek gekommen war. Aber wie schön sah er aus! Im Vergleich zur düsteren Bibliothek war er hell erleuchtet wie ein Ballsaal kurz vor Eintreffen der Gäste. Das Licht der Fackeln spiegelte sich auf den blank polierten weißen Marmorwänden. Rosenblüten schwammen in Messingbecken und verbreiteten ihren betörenden Duft, der an Feen, Prinzen und laue Sommernächte erinnerte. Aus der Ferne erklangen die schweren Schritte der Palastwachen, doch in ihren Ohren hörte es sich an wie Musik, wie Trommelwirbel in einem Karnevalszug mitten in Rio de Janeiro. Sie hatte es geschafft. Am liebsten hätte sie laut gejubelt.
Triumphierend drehte Beatrice sich zu Reza um und nickte ihm zum Abschied zu. Doch in seinen Augen sah sie weder Enttäuschung noch das irre, zornige Glitzern eines unbefriedigten Triebes, wie sie es erwartet hatte. Er hatte weder Schaum vor dem Mund, noch versuchte er sie in einer letzten verzweifelten Anstrengung zu packen und wieder in die Bibliothek zu ziehen. Er grinste nur. Tückisch, bösartig, widerwärtig, als hätte er genau das erreicht, was er erreichen wollte. Dann verbeugte er sich vor ihr und zog die Tür der Bibliothek zu.
Ihre Knie drohten nachzugeben, und für einen Moment lehnte sich Beatrice erleichtert gegen das kühle Holz der Tür. Gott sei Dank, sie war in Sicherheit.
Doch war sie das wirklich? Es dämmerte ihr, dass Reza vermutlich nicht einen Augenblick die Absicht gehabt hatte, sie zu überfallen und zu töten. Das alles entsprang nur ihrer lebhaften Fantasie, genährt durch ihre Vorliebe für Thriller - zugegeben ziemlich brutale und düstere Thriller, nach denen sie meistens das Licht im Flur brennen ließ. Gut, Reza war ihr durch die Bibliothek gefolgt, aber er hatte ihr nichts getan. Doch warum hatte er dann so höhnisch gelächelt? Was hatte er vor? Welche diabolischen Gedanken spukten wohl durch sein verrücktes, von irgendwelchen giftigen Stäuben oder Dämpfen verseuchtes Gehirn?
Auf dem Weg zu ihrem Gemach dachte Beatrice angestrengt darüber nach. Und gerade als sie ihre Zimmertür erreicht hatte und ihre Hand bereits auf dem Türgriff lag, kam ihr ein Gedanke. Wie lange hatte Reza sie wohl schon beobachtet, bevor sie ihm in die Arme gelaufen war? Hatte er die ganze Zeit über zugesehen, welche Bücher sie gelesen hatte? Wusste er, dass es sich um die Bücher von Ali al-Hus- sein handelte? War er in der Lage, die Zusammenhänge zu begreifen? Und wenn ja, wem würde er wohl von seinen Beobachtungen erzählen? Abu Rayhan? Subuktakin? Oder gar Hassan? Jede einzelne dieser Möglichkeiten konnte sie in ungeahnte Schwierigkeiten bringen und die Suche nach Michelle mit einem Schlag beenden. Beatrice öffnete die Tür und trat in ihr Gemach.
In der Mitte des Zimmers stand Yassir, starr und unbeweglich wie eingefroren, als hätte sie ihn beim Eintreten mit flüssigem Stickstoff beschossen. Der junge Diener war gerade damit beschäftigt, das Bett neu zu beziehen.
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