Das Auge der Fatima
Weshalb er das mitten in der Nacht tat, das war nicht schwer zu erraten, denn Yassir war nicht allein-. Er und Sala waren weiß wie frisch gekalkte Wände.
»Herr, ich ... bitte, wir ...«, stotterte Yassir.
»Herr, ich flehe Euch an ...«, fügte Sala hinzu. Seine Stimme bebte so stark, dass Beatrice ihn kaum verstehen konnte. »Wenn mein Herr oder der edle Subuktakin erfährt, dass wir ...«
Beatrice lächelte mitfühlend. Entweder liefen hier in Gazna erstaunlich viele Menschen herum, deren Lebensweise und Ansichten gründlich von denen der Herrscherfamilie abwichen, oder sie zog diese Menschen geradezu magisch an - Yasmina, Maleks Familie, Abu Rayhan und jetzt auch noch Yassir und Sala. Subuktakin würde vor Empörung vermutlich der Schlag treffen, wenn er von den beiden Dienern erführe. Und Hassan? Er würde bestimmt vor »heiligem Zorn« überschäumen und unter fürchterlichem Geschrei den beiden armen Kerlen die schlimmste Todesstrafe angedeihen lassen, die sich ein Mensch ausdenken konnte.
»Macht euch keine Sorgen. Was ihr getan habt, geht mich nichts an. Das ist ganz allein eure Sache«, wagte sie in diesem Raum trotz des Schweigegebots zu sagen.
Die beiden Diener sahen sich verblüfft an.
»Herr«, begann Yassir vorsichtig. »Ihr wollt nicht die Soldaten rufen? Jetzt gleich?«
»Warum sollte ich das tun?«
»Nun, wir sind schließlich ...« Sala räusperte sich und wurde vor Verlegenheit dunkelrot im Gesicht. »Jeder andere würde nicht zögern und uns auf der Stelle in den Kerker werfen lassen.«
»Ich wüsste nicht, weshalb ich das tun sollte«, sagte sie. »Ihr seid pflichtbewusste Diener, wie man sie sich nur wünschen kann. Und wenn einem von euch mal ein Missgeschick passiert und auf das Betttuch ein wenig Lampenöl oder Wasser tropft, so ist das doch noch lange kein Verbrechen, oder?«
»Nein, natürlich nicht, aber ich verstehe nicht ...« Doch Yassir stieß Sala seinen Ellbogen in die Seite, und dann strahlten beide über das ganze Gesicht. Immer wieder verbeugten sie sich vor Beatrice und ergriffen ihre Hände und den Saum ihres Gewandes, um sie zu küssen.
»Herr, wie sollen wir Euch je ...«
»Ihr braucht mir nicht zu danken«, sagte sie und schob die beiden Männer sanft zurück. »Geht jetzt, bitte. Ich habe lange gearbeitet und möchte nun schlafen.«
»Ja, Herr, Euer Wunsch ist uns Befehl«, erwiderte Yassir.
Die beiden verbeugten sich noch ein paarmal, dann verschwanden sie. Beatrice sah noch einen Moment die geschlossene Tür an, durch die Yassir und Sala gerade das Zimmer verlassen hatten. Sie konnte es immer noch nicht fassen. Das Schicksal hatte es mal wieder gut mit ihr gemeint. Denn ganz gleich, was die nächsten Tage bringen würden und um welche Dienste sie würde bitten müssen - auf Yassir und Sala würde sie zählen können.
Hassan betrachtete den schlichten, nur mit wenigen Möbeln schlechter Qualität eingerichteten Raum. Es war ärmlich, geradezu erbärmlich, doch für sein Vorhaben war es perfekt. Das Haus stand in einem der Armenviertel der Stadt, weit entfernt vom Palast und den nächtlichen Patrouillen der Stadtwachen. Die Häuser rechts und links neben diesem waren nichts als verlassene Ruinen und so baufällig, dass nicht einmal die Bettler hier Unterschlupf suchten. Sie waren allein. Niemand würde sie stören, niemand würde sie beobachten, wenn man von ein paar mageren Katzen absah, die in der Dunkelheit Ratten und Mäuse jagten. Das Haus war perfekt, der Plan war perfekt. Und doch ging er in dem Zimmer auf und ab, unruhig und gereizt wie ein Raubtier in einem Käfig. Wo waren nur sein Vertrauen und die Gewissheit, dass er Allahs Willen erfüllte? Normalerweise wusste er, dass er das Richtige tat, dass er den richtigen Weg ging und dass Allahs Engel ihm dabei hilfreich zur Seite standen. Doch jetzt? Wo war diese Sicherheit jetzt? Er war nervös, unsicher und zweifelte letztlich sogar an seiner eigenen Entscheidung. Es war unbegreiflich. Er, dem mittlerweile mehr als hundert Glaubensbrüder absoluten Gehorsam geschworen hatten, zweifelte.
Wütend starrte Hassan den Mann an, den Urheber des Übels, den Grund für seine Zweifel und seine Schwäche. Er kniete vor dem Fenster - schmutzig und in zerfetzte, stinkende Lumpen gehüllt, mit langen ungepflegten Haaren, die seit Jahren weder gewaschen noch geschnitten worden waren, und einem derart staubigen, verfilzten Bart, dass er bis zu seinem Bauch hinabhing und dabei aussah wie die wilden Flechten an der
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