Das Auge der Fatima
verwitterten Rinde eines uralten Baums. Und doch war ihm dieses Gesicht seltsam vertraut.
Zum wiederholten Male fragte er sich, weshalb er überhaupt diesen dreckigen, stinkenden Kerl aus seinem Verlies geholt und hierher geschleift hatte. Weshalb hatte er ihn nicht einfach vergessen und in seinem Loch gelassen, damit er dort langsam verfaulte? Doch es gab einen Grund. Einen sehr guten sogar.
»Du stinkst wie ein schimmliger Abfallhaufen«, sagte Hassan und hielt sich angewidert ein mit duftendem Öl getränktes Tuch vor die Nase. Für Allah musste er das erdulden. Für Allah musste er seine Zweifel und den Gestank ertragen, musste diese Prüfung über sich ergehen lassen - um am Ende zu siegen.
»Verzeiht, Herr, dass ich kein Bad genommen habe, bevor Ihr mich zu Euch gerufen habt«, sagte der Mann mit einer seltsam rauen, krächzenden Stimme, die nach altem, brüchigem Schuhleder oder den rostigen Scharnieren einer lange nicht mehr benutzten Tür klang. »Doch unglücklicherweise waren meine Diener sehr beschäftigt. Sie hatten nicht einmal mehr genug Zeit, meine Festkleider zu richten.«
Hassan erstarrte. War der Kerl etwa wahnsinnig? Nein. Sein Gesicht war zwar bleich und hohlwangig wie der Schädel eines Skeletts, doch seine Augen waren klar und lebendig. Es war erschreckend. In diesem Mann steckte eine geradezu übermenschliche, eine diabolische Kraft, die nicht einmal der Kerker hatte auslöschen können. Andere, bessere Männer wurden schon nach wenigen Tagen Haft verrückt. Doch dieser hier hatte ausgeharrt, im Dunkeln, fast ohne Nahrung und Wasser. Wäre er ein Sohn des Höchsten, Allah hätte ihn in Seiner großen Güte und Barmherzigkeit schon längst von seinem Leiden erlöst und ihn zu sich in sein Paradies geholt. Doch der Kerl lebte noch. Und es gab nur einen, der ihm dabei geholfen haben konnte. Hassan erschauerte.
Allah!, flehte er, gib mir Kraft, standhaft zu bleiben, mich nicht von ihm reizen zu lassen, um seinem schändlichen Werk vorschnell ein Ende zu setzen. Gib mir die Kraft, diese Aufgabe zu beenden, denn nur so wird es uns gelingen, das Heer Deiner Widersacher endgültig zu vernichten.
»Was willst du von mir, Hassan? Warum hast du mich aus dem Kerker geholt?«, fragte der Mann, der einem Gespenst nicht unähnlich war, einem Geist, emporgestiegen aus den Albträumen einer längst erloschenen Vergangenheit. »Warum hast du mich nicht einfach dort gelassen?«
»Du hast nicht das Recht, Fragen zu stellen«, sagte Hassan und gab dem am Boden knienden Mann einen Tritt gegen die Schulter. Der Gefangene stöhnte vor Schmerz auf und taumelte zurück, doch er verlor nicht das Gleichgewicht. Und dann erklang ein seltsames, glucksendes Geräusch. Es dauerte eine Weile, bis Hassan begriff, dass der Mann zu seinen Füßen lachte. Bei allen Heiligen Allahs, woher nahm der Kerl die Kraft, den Mut und die Frechheit zu lachen?
»Ich verstehe schon. Du brauchst mich, mein Freund«, sagte der Mann mit seiner heiseren Stimme. »Nicht wahr, so ist es doch? Du brauchst mich. Deshalb hast du dich wieder an mich erinnert - nach all den Jahren.«
»Schweig!« Hassan war fassungslos. Er wusste noch nicht, welches Gefühl in ihm die Oberhand gewinnen würde - der Zorn über diesen gottlosen Frevler, der in seiner mottenzerfressenen Kleidung vor ihm auf dem Boden hockte und es wagte, ihn zu verspotten, oder die Furcht vor der diabolischen Macht, die in dieser mageren, knochigen Gestalt zu stecken schien. »Du kennst Ali al-Hussein ibn Abdallah ibn Sina?«
»Den Arzt?« Ein Lächeln umspielte die blutleeren Lippen des Mannes. »Natürlich. Das weißt du doch. Wir beide kennen ihn, Hassan. Er hat dir das Leben gerettet. Damals, als du vom Pferd gestürzt bist. Erinnerst du dich noch? Natürlich waren es andere Zeiten - Zeiten der Freundschaft, der Treue. Wir waren auf der Falkenjagd, du und ich ...«
»Ruhe!«, brüllte Hassan. Er hielt sich die Ohren zu. Auf gar keinen Fall wollte er dieser Stimme noch länger zuhören. Es war die Stimme des Versuchers, die danach trachtete, ihn zu verführen und vom richtigen Weg abzubringen.
Hassan begann mit der Aufzählung der neunundneunzig Namen Allahs, er rief die Engel um Schutz und Beistand an. Trotzdem taten die Einflüsterungen des Teufels bereits ihre Wirkung. Bilder tauchten vor seinem inneren Auge auf, Bilder, die er gar nicht sehen wollte. Bilder aus einer Vergangenheit, an die er sich nicht erinnern wollte, weil sie schlecht war, weil sie tot war, weil sie
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