Das Auge der Fatima
tauchen? Dann musste er mühsam seine Gedanken neu ordnen, um sie unter Flüchen und den Wüns c hen nach einer Feder, mit der man ohne lästige Unterbrechungen schreiben könne, erneut aufzuzeichnen.
In Erinnerungen versunken, streichelte Beatrice den Einband. Und für einen kurzen Augenblick bildete sie sich ein, sie würde nicht das trockene, rissige Leder unter ihren Fingerspitzen fühlen, sondern Alis Wange. Sein raues Gesicht mit dem Vollbart, der sie so oft gekitzelt und geärgert hatte. Tränen traten ihr in die Augen. Sie vermisste ihn. Doch dann schreckte sie jäh auf. Warum standen die Bücher hier? Was hatten sie in der Bibliothek von Gazna verloren? Freiwillig hatte Ali sie gewiss nicht hergegeben. Seine Leidenschaft für Wissenschaft und Lehre war so ausgeprägt, dass er sich lieber von seinem ganzen Besitz getrennt hätte als von einem einzigen seiner Bücher. Was konnte das bedeuten? Waren ihm die Bücher auf einer seiner vielen Reisen gestohlen worden? Oder hatte man sie ihm gewaltsam abgenommen? War er etwa ...
Beatrice geriet in Panik. Verzweifelt versuchte sie sich wieder die einzelnen Stationen im Leben des berühmten arabischen Arztes Ali al-Hussein ibn Abdallah ibn Sina ins Gedächtnis zu rufen. Sein Wirken als Leibarzt des Emirs in Buchara, seine Flucht, als Nuh II. vertrieben wurde, sein kurzer Aufenthalt in der Stadt Hamdan ... Sie kannte sie fast auswendig, so viele Biografien hatte sie in den vergangenen Jahren über ihn gelesen, über den berühmten arabischen Arzt Avicenna, wie Ali auch genannt worden war. Ihr Ali. Hatte er irgendwann in Gazna gelebt?
Sie rieb sich die Stirn. Sie konnte nicht nachdenken, wenn sie so nervös war. Die Geschichtszahlen tanzten in ihrem Hirn Ringelreihen, und plötzlich war sie sich nicht einmal mehr sicher, in welchem Jahr sie sich gerade befand. Ihren bisherigen Berechnungen zufolge musste dies eigentlich das Jahr 1017 oder 1018 sein. Ali würde noch leben und irgendwo auf seiner ziellosen Reise durch die arabische Welt sein. Doch war sie sich dessen wirklich sicher? Es gab Schaltjahre und erhebliche Unterschiede zwischen der christlichen und der muslimischen Zeitrechnung. Das Jahr war unterschiedlich lang, und wenn sie nicht wirklich alles berücksichtigt hatte, konnte sie sich gut und gerne um mehr als zwanzig Jahre verrechnet haben. Ali al-Hussein war, wenn man den Historikern glauben durfte, im Jahre 1037 gestorben. Vielleicht war es schon so weit. Vielleicht hatten ihn Subuktakin und seine Soldaten geschnappt, getötet und die wertvolle Bibliothek an sich genommen. Sie meinte sogar darüber in einer Biografie gelesen zu haben. Beatrice wurde schwindlig. Plötzlich wurde ihr klar, dass sie, seitdem sie zu Hause das Fehlen des Saphirs bemerkt hatte, davon ausgegangen war, dass Ali noch lebte. Sie hatte nicht einen Augenblick daran gezweifelt, dass Michelle zu ihrem Vater gegangen war. Ohne sich dessen bewusst gewesen zu sein, hatte sie angenommen, dass sie das Kind dort letztlich auch finden würde - bei Ali. Jetzt wusste sie, wie sie vorgehen musste. So bald wie möglich würde sie Ali aufsuchen. Doch vor allem brauchte sie jetzt einen Kalender. Denn erst mit dem genauen Datum würde sie wissen, wo sie Ali finden konnte. Sie würde Yassir damit beauftragen, ihr einen Kalender zu besorgen.
Rasch stellte sie das Buch ins Regal zurück und kletterte die klapprige Leiter hinunter. Sie hatte gerade das Ende erreicht und wollte zum Ausgang, um die Bibliothek zu verlassen, als sie heftig erschrak. Direkt vor ihr, nicht einmal eine Armlänge von ihr entfernt, stand Reza. Der Schein des Talglichts zuckte wild über sein Gesicht, das seltsam starr wirkte. Starr und grau, so als wäre er tatsächlich aus Stein gemeißelt - oder aus einem Grab auferstanden. Es war eine Begegnung wie aus einem Horrorfilm.
»Verzeiht«, flüsterte Beatrice und wollte sich gerade vor dem Bibliothekar rechtfertigen, als ihr das Schweigegebot wieder einfiel und die drakonischen Strafen, die Hassan angedroht hatte. Vielleicht hatte Reza die Absicht, sie zu provozieren, sie in eine Falle zu locken, um sie gleich morgen früh, sobald die Sonne aufgegangen war, bei einem Mitglied der Herrscherfamilie zu denunzieren.
Sie trat einen Schritt zur Seite, um rasch an dem Bibliothekar vorbeizugehen, doch er stellte sich ihr wieder in den Weg. Erneut versuchte sie an ihm vorbeizugehen, vergeblich. Sobald sie einen Schritt machte, tat er es auch. Auf diese Weise war an ein Durchkommen
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