Das Auge der Fatima
erneut mit seinem Stock auf den Boden, »Ali al-Hussein ibn Abdallah ibn Sina gilt in dieser Stadt als ein Ketzer, der nicht nur sein Leben, sondern auch seinen Platz im Paradies verwirkt hat. Und jeder, der sich mit seinen Büchern beschäftigt, ist somit ebenfalls ein Ketzer.«
»Dass bisher weder Hassan noch Subuktakin davon wissen, ist lediglich dem glücklichen Umstand zu verdanken, dass Reza sich stets in allen Fragen zuerst an Kemal al-Fadlan wendet«, fuhr Abu Rayhan fort und deutete auf den Greis neben ihm. »Versteht Ihr uns jetzt? Junger Freund, wir wollen Euch nicht verurteilen. Aber wir fürchten um Eure Sicherheit, um Euer Leben, falls Euer Interesse für ibn Sina und seine verbotenen Wissenschaften im Palast ruchbar würde.«
Beatrice biss sich auf die Unterlippe. Die beiden hatten Recht. Natürlich hatte sie vor, noch in dieser Nacht aus Gazna zu verschwinden, doch vielleicht blieben ihr nicht einmal mehr die wenigen Stunden bis zum Einbruch der Dunkelheit. Vielleicht musste sie Gazna sofort verlassen.
»Wer weiß noch davon?«, fragte sie.
»Niemand außer Kemal, ich und der Bibliothekar«, antwortete Abu Rayhan. »Doch Reza wird misstrauisch werden, sobald er merkt, dass wir nicht die Absicht haben, Euch zu bestrafen. Deshalb ...«
»Ihr müsst Gazna verlassen, solange Ihr noch die Möglichkeit habt, es auf Euren eigenen Beinen zu tun«, sagte Kemal, der Greis. »Am besten noch heute.«
»Aber wie ...«
»Unglücklicherweise lassen uns Hassan und seine Vertrauten kaum aus den Augen. Daher sind unsere Möglichkeiten sehr begrenzt.« Abu Rayhan sprach so hastig und leise, als hätte er nur wenig Zeit und würde zugleich fürchten, belauscht zu werden. Er nahm einen Lederbeutel und eine kleine, mit dunklem Leder bespannte Röhre und drückte ihr beides in die Hand.
»Was ist das?«, fragte sie und wog den Beutel. Er war überraschend schwer. Und es klimperte. »Ist das etwa ...«
»In der Steppe vor dem Westtor gibt es einen Kaufmann. Da er sein Geschäft außerhalb der Stadt betreibt, gilt die von Subuktakin auferlegte Zeit der Trauer für ihn nicht. Bei ihm könnt ihr also ein Pferd, Wasser, Proviant und alles, was Ihr außerdem für Eure Reise benötigt, erwerben. Und darin ...«, er deutete auf die Röhre, »... befindet sich eine Landkarte. Sie umfasst das ganze Land bis zu den Bergen.«
»Außerdem möchten wir Euch raten, die Männerkleidung wieder abzulegen«, sagte Kemal so ruhig und gelassen, als würde er ihr empfehlen, den Regenschirm nicht zu vergessen. »Wenn Eure Flucht entdeckt wird, werden Hassan und die Soldaten nach einem Mann suchen. Folglich wird niemand Euch verraten können.«
»Was wollt Ihr damit sagen?«, fragte Beatrice und unternahm den schwachen Versuch, entrüstet zu wirken. Vergeblich. Kemal verzog seinen zahnlosen Mund zu einem Lächeln.
»Ich wusste es vom ersten Augenblick an. Als Allah mir vor vielen Jahren mein Augenlicht nahm, hat Er in Seiner un- ermesslichen Güte zum Ausgleich mein Gehör geschärft. Es war Eure Stimme. Sie hat Euch verraten.«
Beatrice schnappte mühsam nach Luft. Sie hatte den Eindruck, jemand hätte ihr eine Schlinge um den Hals gelegt, die sich nun langsam zuzog.
»O mein Gott!«, flüsterte sie. »Wer weiß noch, dass ich ...«
»Niemand außer uns beiden«, sagte Abu Rayhan. »Andernfalls hätte man Euch nicht so lange unbehelligt gelassen.«
Lange? Wäre dies alles nicht so beängstigend, sie hätte vermutlich über die Ironie dieser Worte lachen müssen. Sie war doch kaum mehr als vierundzwanzig Stunden hier.
»Und warum- habt Ihr mich nicht verraten?«, fragte sie. »Ihr habt eine günstige Gelegenheit verstreichen lassen, Euer Ansehen bei Subuktakin zu verbessern.«
Abu Rayhan warf dem Alten einen kurzen Blick zu.
»Wir sind keine Kleriker, deren Geist sich an jede einzelne Silbe des Korans klammert«, antwortete er. »Wir sind Gelehrte. Kemal und ich wussten zwar sofort, dass Ihr Euch verstellt habt, dass nicht einmal die Berichte über Eure Herkunft der Wahrheit entsprechen, doch in einem Punkt habt Ihr nicht gelogen. Ihr habt die Medizin studiert. Wir haben von Euren Heilkünsten erfahren. Der junge Sohn des Teppichhändlers wird dank Eurer Kunst wieder laufen können. Ein Gelehrter, der über solche Fähigkeiten verfügt, hat unseren Schutz verdient. Und dabei hat es keine Bedeutung, ob es sich um einen Mann oder eine Frau handelt.«
Beatrice stützte den Kopf auf die Hände. Vor Erleichterung war ihr schwindlig.
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