Das Auge der Fatima
Männer und Frauen an diesem Tag dasselbe Ziel hatten wie sie, wurde sie von niemandem beachtet. Nicht einmal die Wachen am Stadttor schenkten ihr besondere Aufmerksamkeit. Sie war nur eine von vielen, die sich an diesem Tag auf den Weg zu dem einzigen Kaufmann gemacht hatten, der trotz der Trauerzeit sein Geschäft betreiben durfte. Der kurze Fußmarsch von etwa zwei Kilometern war Beatrice vorgekommen wie eine Pilgerreise. Eine Pilgerreise zu einem gesegneten Ort, an dem man jedoch keine geweihten Kerzen, sondern Fleisch, Mehl und Hülsenfrüchte erstehen konnte.
Bei dem »Geschäft« handelte es sich um ein kleines Dorf mit einer Hand voll Wohnhäusern, einem Gasthaus, einer Schmiede und einem Stall voller Pferde und Maultiere. Sogar zwei Kamele konnte Beatrice entdecken, in dieser fruchtbaren Gegend ein seltener Anblick. Herzstück und Zentrum des Dorfs aber war der Laden, der so groß war, dass er einem modernen Supermarkt alle Ehre gemacht hätte. Bevor sie jedoch endlich in den Laden hineinging, hatte Beatrice ihren Schleier abgelegt, unter dem sie Reisekleidung trug. Der Kaufmann war ein freundlicher dicker Mann mit einem dichten grauen Bart und fröhlich funkelnden Augen. Er und seine zahlreichen Gehilfen waren geschäftig hin und her geeilt, bemüht, trotz des Andrangs jeden Wunsch zu erfüllen und Linsen, Mehl, Salz und Gewürze an jeden Kunden in den gewünschten Mengen zu verkaufen. Beatrice hatte schon begonnen, sich Sorgen zu machen, dass der Laden bald ausverkauft sein könnte. Doch als sie schließlich an der Reihe war, hatte sie trotz des Andrangs alles erhalten, was ihr Herz begehrte - ein Pferd, ausreichend Proviant für mindestens zehn Tage und zwei gefüllte Wasserschläuche. Dabei waren die Preise trotz der starken Nachfrage erstaunlich niedrig, sodass sie schließlich noch genügend Geld übrig hatte, um einen schlanken Dolch zu kaufen. Sie hoffte zwar inständig, dass sie die Waffe niemals brauchen würde, doch ausgeschlossen war es nicht. Sie musste auf alles vorbereitet sein.
Zufrieden tätschelte sie dem Pferd den Hals. Das Tier war ausdauernd und schnell. Seitdem sie das Dorf des Kaufmanns am frühen Nachmittag verlassen hatte, hatte sie weder sich noch dem Pferd eine Pause gegönnt. Trotzdem zeigte es keine Anzeichen von Müdigkeit oder Erschöpfung. Im Gegenteil, jedes Mal, wenn sie das Pferd zügelte, um es zur Erholung im Schritt gehen zu lassen, warf es den Kopf hoch und wieherte so empört, als wollte es ihr sagen, dass es dieses gemächliche Tempo als Beleidigung empfinde.
Aus den Säcken, die hinter ihr am Sattel hingen, stieg ihr der Duft der kleinen harten Dauerwürste verführerisch in die Nase und sorgte für regen Speichelfluss. Bereits im Laden hatte sie das beinahe unwiderstehliche Verlangen verspürt, in diese leckeren Würste hineinzubeißen. Doch sie musste sich noch ein wenig gedulden. Sie wollte noch bis zum Einbruch der Dunkelheit in westlicher Richtung weiterreiten, dann eine kurze Pause einlegen und essen, um schließlich im Licht der Sterne endlich die Richtung zu wechseln und nach Norden zu reiten, der Stadt Qazwin entgegen. Vielleicht war es übertriebene Vorsicht. Bisher hatte sie keine Verfolger entdecken können, und es war nicht zu erwarten, dass das Pferd auf dem harten Boden viele Spuren hinterlassen würde. Trotzdem - lieber zu vorsichtig als leichtsinnig.
Der Sonnenuntergang war ein großartiges Schauspiel. Wie ein riesiger blutroter Ball versank die Sonne direkt hinter den Hügeln, die vor ihr lagen, und ließ die Ruinen eines verlassenen Bauernhofs glühen. Dabei versteckte sie sich hinter einem grauen Nebel, als würde auch sie sich an das Verschleierungsgebot des Korans halten. Fasziniert beobachtete Beatrice, wie die Sonne immer tiefer sank und der Schleier immer dichter wurde. So etwas hatte sie noch nie zuvor gesehen. Es dauerte eine Weile, bis sie begriff, dass dies kein Naturschauspiel war. Der Schleier war nichts anderes als Rauch, der von einem Feuer aufstieg. Beatrice zügelte erschrocken ihr Pferd. Kaum mehr als hundert Meter von ihr entfernt hatten zwei Männer einen riesigen Reisighaufen in Brand gesteckt. Zum Glück waren die beiden so mit ihrem Feuer beschäftigt, dass sie Beatrice noch nicht bemerkt hatten. Rasch ritt sie zu einer der Ruinen, sprang vom Pferd und versteckte sich hinter den Überresten der Mauer, die wohl einst zu einem Stall gehört hatte. Vorsichtig spähte sie durch eine der Lücken zwischen den Lehmziegeln
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