Das Auge der Fatima
seine Augen trat ein seltsames Leuchten. »Die Einsicht. Er ist der zweite der sieben. Als ich ihn das letzte Mal gesehen habe, war ich noch ein junger Mann. Und Gott allein weiß, wie lange das her ist.«
»Ihr erkennt den Stein aus dieser Entfernung?«, fragte Beatrice ehrlich verblüfft und legte den Saphir in Moshes ausgestreckte Hand. »Und Ihr habt ihm sogar einen Namen gegeben?«
»Jeder der Steine der Fatima trägt einen Namen. Jeder der sieben«, erwiderte der Alte und lächelte, während seine Finger beinahe zärtlich die Konturen des Saphirs entlangfuhren, als wäre dieser ein seit langer Zeit vermisster Freund. »Doch nicht ich habe ihnen diese Namen gegeben, sie tragen sie seit ihrer Erschaffung. Habt Ihr das nicht gewusst?«
Beatrice schüttelte den Kopf. Es gab viel, was sie über die Steine der Fatima nicht wusste. Im Grunde genommen hatte sie bisher nichts gewusst, außer dass es sich um mehrere Bruchstücke handelte, die - der Legende nach - aneinander gefügt ein Auge darstellen sollten. Und dass diese Steine die Macht hatten, ihre Träger kreuz und quer durch die Weltgeschichte zu schicken.
»Es sind sieben? Aber ich dachte, die Zahl der Steine der Fatima sei unbekannt. Woher wisst Ihr, dass ...«
»Langsam, langsam, alles der Reihe nach. So viel Zeit werde ich wohl noch haben«, sagte der Rabbi mit einem amüsierten Funkeln in den Augen. Dann winkte er Isaac zu sich. »Schaffe zwei Stühle und etwas zu essen herbei. Vergiss auch die Mandeln nicht.«
Ali wurde dunkelrot im Gesicht und starrte auf den Boden, während der Junge zwei bequeme Stühle heranschleppte und sie gegenüber vom Lehnstuhl des Alten aufstellte. Dann lief er hinaus und kam wenig später mit einem Tablett mit frischem Obst, getrockneten Feigen und Datteln und einem Teller mit frisch gerösteten Mandeln zurück.
»Danke, Isaac«, sagte Moshe Ben Maimon. »Und jetzt bring mir bitte den Kasten.«
Isaac reichte dem Rabbi einen viereckigen schmucklosen Kasten aus dunklem Holz. Der Alte nahm den Kasten auf seinen Schoß. Seine knorrigen Finger streichelten den Deckel, als würde sich darin nichts Geringeres als der Heilige Gral befinden.
Ein Tagebuch, dachte Beatrice und spürte, wie die Aufregung in ihren Fingerspitzen kribbelte. Bestimmt bewahrt Moshe darin ein Tagebuch mit den Aufzeichnungen über alle seine Reisen auf. Oder es ist eine Liste mit den Orten, an denen die einzelnen Bruchstücke des Auges der Fatima zu finden sind.
»Zuerst muss ich euch ein paar Dinge erklären, damit ihr verstehen könnt. Allerdings werden meine Ausführungen wohl eher religiöser denn wissenschaftlicher Natur sein«, sagte Moshe und warf Ali einen auffordernden Blick zu. »Es ist nicht meine Absicht, Euren Zorn heraufzubeschwören.«
»Das ist...«, Ali räusperte sich. Er wirkte so verlegen und befangen, wie Beatrice es von ihm gar nicht gewohnt war. »Das ist gleich. Dank Eurer scharfen Worte habe ich mittlerweile eingesehen, dass Ihr Recht hattet. Nicht alles, was auf dieser Welt geschieht, kann wissenschaftlich erklärt werden. Wenigstens vorläufig nicht. Und ich stimme Euch zu, dass jeder wahre Wissenschaftler bereit sein muss, seine eigenen Thesen zu überprüfen und - falls nötig - zu widerrufen.«
Der Rabbi nickte anerkennend, aber auch amüsiert, sodass Beatrice sich fragte, was wohl beim ersten Treffen der beiden Männer vorgefallen war, auch wenn sie sich das gut vorstellen konnte. Sie kannte schließlich ihren Ali - seinen scharfen Verstand, seine rasche Auffassungsgabe, seinen unerschütterlichen Glauben an Vernunft und Wissenschaft, aber auch seinen zuweilen bis an Arroganz grenzenden Starrsinn, wenn es um die Verteidigung seiner eigenen Theorien ging.
»Das >Auge der Fatima<... «, sagte Moshe und streichelte gedankenverloren den Kasten auf seinem Schoß. »Ihr wisst vermutlich, wie es der Legende nach entstand?«
»Nach dem Tod des Propheten entbrannte ein Streit unter seinen Nachfolgern«, antwortete Beatrice und kam sich dabei vor wie im Deutschunterricht der zehnten Klasse. Damals hatte ihr Lehrer auch immer diese völlig sinnlosen und langweiligen »Verständnisfragen« gestellt, die selbst der letzte Trottel beantworten konnte. Trotzdem hatte sie sich immer gemeldet. Klar, früher hatte es dafür schließlich auch Zensuren gegeben. Und jetzt? Jetzt konnte sie wenigstens einem alten, sterbenden Mann eine Freude machen. »Sie konnten sich nicht einigen, wer von ihnen im Besitz der Wahrheit war. Um diesen Streit
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