Das Auge der Fatima
...«
»Als Allah den Menschen erschuf, wollte Er keine Untertanen, die Seinem Wort folgen wie das Vieh seinem Hirten. Deshalb hat es Allah in Seiner unendlichen Gnade gefallen, Seinen Kindern einen freien Willen zu geben. Und manche nutzen diesen Willen, um sich von Allah, ihrem Schöpfer, loszusagen.«
Mustafa erschauderte. Es war ihm unverständlich, wie ein Mensch so etwas tun konnte. Wie er sehenden Auges das Paradies gegen die Hölle eintauschen konnte.
Der Laden des Ölhändlers Levi war still und strahlte Ruhe und Frieden aus. Warmes Sonnenlicht flutete durch die geöffnete Tür herein und setzte den Verkaufstisch und das dahinter stehende Regal in dezentes, nahezu sakral anmutendes Licht. Wären sie nicht in Qazwin, sondern in Paris oder London gewesen, es hätte sich bei diesem Geschäft ohne weiteres um eine Galerie oder exklusive Parfümerie handeln können, eingerichtet in jenem minimalistischen Stil, der Anfang des 21. Jahrhunderts bei der Designer-Elite so beliebt war. Doch Beatrice gab sich dieser Illusion nicht hin. In den großen Krügen, die in dem Regal standen, wurden keine teuren Hautcremes aufbewahrt. Und was hier so intensiv duftete, waren weder handgefertigte Seifen noch Parfüms, es waren die aus einer Vielzahl stark duftender Kräuter hergestellten Öle und Salben, die bei orientalischen Bestattungen benötigt wurden. Wer diesen Laden betrat, wollte nicht sein Bedürfnis nach Schönheit und Luxus befriedigen. Wer zu Moshe Ben Levi kam, hatte einen Toten zu beklagen.
Ali und Beatrice waren allein im Laden. Von draußen drang das Hämmern der Steinmetze und das Klappern der Webstühle zu ihnen herein, friedliche Geräusche, die beinahe vergessen ließen, dass in dieser Straße nur Grabsäulen und Leichentücher hergestellt wurden. Ein Schauer lief Beatrice über den Rücken, als sie an die Schar weiß gekleideter weinender Frauen dachte, die einem von mehreren jungen Männern getragenen Sarg gefolgt waren. Sie waren ihnen nur wenige Meter vom Haus des Juden entfernt begegnet. Und ihr Ziel war eindeutig. Ein großes schwarzes Tor stand weit offen, und in der Ferne konnte man die steinernen Grabmale sehen, die Grabstätten der wohlhabenden Bürger von Qazwin, die sich wie eine Fortsetzung der gesellschaftlichen Ordnung der Lebenden über die schlichten Gräber der Armen und Mittellosen erhoben.
Als auch nach einer Weile niemand kam, räusperte Ali sich laut, und gleich darauf waren aus dem hinteren Teil des Ladens Schritte zu hören.
»Verzeiht, dass ich Euch warten ließ«, sagte ein junger Mann mit einem freundlichen Lächeln auf dem schmalen Gesicht. Er trug makellos weiße Kleidung, eine runde weiße Kappe auf dem Hinterkopf und lange Schläfenlocken. »Womit kann ich Euch dienen?«
Beatrice spürte, wie ihr die Röte ins Gesicht schoss. Es war dasselbe Gefühl, das sie empfunden hatte, als sie auf einem Spaziergang in Paris durch Zufall in das jüdische Viertel gestolpert war - eine Mischung aus Verlegenheit, Unsicherheit und Scham, verbunden mit dem Gefühl des Verlustes, einem Gefühl, wie Beinamputierte es beschreiben, wenn sie ein Kribbeln in ihrem Fuß spüren, der gar nicht mehr existiert. Es waren die Nachwirkungen der von den »Braunen Horden« begangenen Verbrechen gegen ein Volk, das einst ein wesentlicher kreativer Teil der deutschen Kultur gewesen war. Es war ihr persönlicher Anteil an der Strafe. Sie war nur froh, dass Ali bei ihr war und für sie das Sprechen übernehmen konnte.
»Der Friede sei mit Euch«, sagte Ali mit seltsam heiserer Stimme, und für einen Moment hatte Beatrice den Verdacht, dass es ihm nicht besser erging als ihr. Auch er schien sich den Juden gegenüber unsicher zu fühlen. Vielleicht sogar unterlegen? »Wir möchten mit Rabbi Moshe Ben Maimon sprechen.«
Der junge Mann hob überrascht eine Augenbraue.
»Oh, Herr, verzeiht, aber Ihr müsst Euch irren. Jemand hat Euch eine falsche Adresse genannt. Hier wohnt kein Rabbi dieses Namens. Ihr solltet Euch an ...«
»Gebt Euch keine Mühe«, unterbrach ihn Ali. »Ich habe mit Moshe Ben Maimon bereits vor einiger Zeit gesprochen. Hier in diesem Haus. Außerdem schickt mich Saddin.«
Der junge Mann neigte seinen Kopf.
»Ich verstehe«, sagte er. »Dann betrübt, es mich umso mehr, Euch mitteilen zu müssen, dass Rabbi Ben Maimon schwer erkrankt ist. Er ist kaum in der Lage, das Bett zu verlassen, und kann zurzeit leider niemanden empfangen.«
»Aber ...«
Ali und Beatrice sahen sich entsetzt
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