Das Auge der Fatima
»Aber warum ausgerechnet ich? Ich wollte doch nur ...«
Moshe lächelte mild und verständnisvoll. »Ich kann Euch verstehen«, sagte er und brachte Beatrice damit auf die Palme. Wenn er sie so gut verstehen konnte, weshalb mutete er ihr das denn zu? »Niemand bewirbt sich um diese Aufgabe. Sie wird uns übertragen, als Zeichen des in uns gesetzten Vertrauens. Nicht ich habe Euch auserwählt. Das Auge hat es getan - und damit der Wille, der das Auge lenkt.«
Beatrice wurde schwindlig. Was sollte sie tun? Am besten, sie würde jetzt gleich einen Teil der Aufgabe erfüllen und ihren Stein zu den anderen legen. Vielleicht ließ Moshe sich doch noch überreden, selbst bis zum Schluss weiterzumachen. Sie streckte ihre Hand aus, um ihren Stein ebenfalls in den Kasten zu legen, als Moshe plötzlich ihr Handgelenk umklammerte. Seine dürren Finger waren so kalt, als ob er bereits tot wäre, und trotzdem hatten sie eine erstaunliche Kraft.
»Nein«, sagte er mit Nachdruck. »Noch nicht. Es ist zu gefährlich.«
»Warum?«
»Ihr müsst die Steine von hier fortbringen. Auf dem Weg zu eurem Haus könnten euch Fidawi begegnen und den Kasten in ihre Gewalt bringen. Sechs Steine wären dann für lange Zeit verloren.« Er nickte zur Bekräftigung seiner Worte. »Behaltet u-bina wie Ihr es gewohnt seid bei Euch in dem Beutel, bis ihr zu Hause seid und Ihr auch noch ruach-daat zu den anderen hinzufügen könnt. Sollten die Fidawi euch überfallen, wären wenigstens zwei der sieben immer noch beieinander.«
Beatrice warf Ali einen Blick zu. Er zuckte mit den Schultern. Offensichtlich leuchteten auch ihm die Argumente des Alten nicht wirklich ein. Aber wenn sie ihm damit eine Freude machen konnte, wollte sie es tun. Immerhin würde er nicht mehr lange zu leben haben. Und da die Steine mittlerweile seit mehreren hundert Jahren getrennt waren, würde eine Stunde mehr oder weniger auch nicht ins Gewicht fallen.
»Bringt die Steine aus Qazwin raus«, fuhr Moshe Ben Maimon fort und ließ Beatrices Handgelenk endlich los. »Die Fidawi sind der Spur der Steine schon einmal bis hierher gefolgt. Meine Söhne konnten zwar die Toten unbemerkt verscharren und jeden Hinweis auf ihre Anwesenheit hier in der Stadt verwischen, doch ich bin sicher, es wird nicht mehr lange dauern, bis sie die Spur ein zweites Mal finden. Selbst wenn sie eine Niederlage hinnehmen müssen, geben sie nicht auf. Vielleicht sind sie sogar schon hier.« Er sank in seinem Sessel zusammen und wirkte noch kleiner als zuvor. »Und nun geht. Ich bin müde.«
Isaac eilte zu ihm, nahm seine Hand und schaute ihm in die Augen.
»Ihr habt den Rabbi gehört«, flüsterte er Ali und Beatrice zu. »Geht. Wenn ihr noch Fragen habt, kommt an einem anderen Tag wieder. Rabbi Ben Maimon braucht jetzt Ruhe.«
Beatrice und Ali sahen sich an, dann erhoben sie sich gemeinsam. Isaacs Worte klangen in Beatrices Ohren wie blanker Hohn. Und ob sie noch Fragen hatte! Sie hatte sogar den Eindruck, dass während des Gesprächs mehr neue Fragen aufgetaucht als alte beantwortet worden waren. Saddin hatte Recht, Moshe Ben Maimon vermochte ihr bestimmt alles über die Steine der Fatima zu erzählen, was ein Mensch nur darüber wissen konnte. Doch nach ihrer vorsichtigen Schätzung würde das ein intensives Studium von ein bis zwei Jahren erfordern. So viel Zeit hatten sie aber nicht. Moshe würde bald sterben. Und so sehr es sie auch ärgerte, sie konnten den alten kranken Mann unmöglich noch länger mit ihren Fragen belästigen. Also verließen sie das Haus.
Moshe Ben Maimon hörte die Schritte seiner Besucher, als sie den Innenhof durchquerten, und das Zuschlagen der Haustür. Wie gern hätte er den beiden mehr erzählt, ihnen all jene Fragen beantwortet, die er in ihren Augen gesehen hatte. Doch wie sollte er das in der Kürze der Zeit, die ihm noch blieb, tun, er, der selbst viele, kaum mehr gezählte Leben gebraucht hatte, um die Antworten zu finden? Und statt der Erleichterung darüber, dass nun endlich nach vielen Jahrzehnten die Bürde, die Steine der Fatima zu beschützen, von seinen Schultern genommen war, spürte er nur, wie seine Kraft ihn verließ. Endgültig.
»Ich bin so müde, Isaac«, flüsterte er dem Jungen zu, der sich besorgt über ihn beugte. »So unendlich müde.«
»Ich weiß, Rabbi, ich weiß. Ich bringe Euch in Euer Bett.« Isaac hob ihn auf seine jungen, starken Arme wie ein kleines Kind und trug ihn zum Bett. »Ihr müsst schlafen, Rabbi. Und morgen früh werdet Ihr
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