Das Auge der Fatima
endlich zu beenden, hat Fatima auf dem Sterbebett ein Auge geopfert, das Allah in einen wunderschönen großen Saphir verwandelt haben soll. Doch anstatt sich jetzt zu einigen, entbrannte der Streit nur noch heftiger. Jeder wollte das Auge für sich haben.«
»Richtig«, Moshe nickte ihr zu. »So oder so ähnlich erzählen es die Legenden, und so oder so ähnlich könnte es tatsächlich gewesen sein. Als Gott in Seinem großen Zorn über die Habgier und den Starrsinn der Menschen das Auge der Fatima schließlich zerschmetterte, zerschlug Er es in sieben Teile, denn selbst in Seinem großen Zorn wollte Er die Menschen nicht bestrafen.« Der alte Mann schloss die Augen und lächelte. »Gottes Güte und Geduld mit Seinen Kindern ist wahrlich unbegrenzt. Jedes einzelne Teil des Auges steht für eine der sieben Gaben des Geistes. Jeder einzelne Saphir ist die Verkörperung einer der sieben Gaben und bildet eine Stufe auf dem Weg zur Wahrheit oder zur >Erleuchtung<, wie es ein guter Freund von mir einmal bezeichnet hat. Ein Freund übrigens, in dessen Obhut u-bina lange Zeit gewesen ist, Beatrice. Dort wurde er über viele Jahre hinweg beschützt und ...« Er schüttelte den Kopf und rieb sich die Augen. »Verzeiht, ich schweife ab. Das ist eine andere Geschichte. Sie hat für euch und eure Fragen keine Bedeutung. Die sieben Saphire sind Weisheit, Einsicht, Rat, Erkenntnis, Stärke, Frömmigkeit und Gottesfurcht. Und jeder der Steine hat die Macht, seinem Träger dieses in ihm wohnende Wissen zu offenbaren. «
»Und Ihr ...«
»Ja, ich hatte die große Ehre, bereits Hüter von jedem von ihnen gewesen zu sein«, sagte Moshe, und ein eigenartiges, fast trauriges Lächeln lag auf seinen Lippen. »Sie haben mich auf so vielen Reisen begleitet, dass sich die Spanne meines Lebens gut und gerne verdreifachen lässt. Ich habe viel von ihnen gelernt, sehr viel, und dabei leider auch viel über die Torheit der Menschen erfahren. Sie sind habgierig und neidisch, anstatt zu teilen. Es gefällt ihnen zu hassen, anstatt zu lieben. Sie vernichten sich gegenseitig und vergessen dabei, dass sie selbst nicht einmal in der Lage sind, einem Wurm neues Leben zu spenden.«
Er klappte den Deckel des Kastens auf, und plötzlich füllte sich der Raum mit einem warmen Licht. Vor Alis und Beatrices staunenden Augen lagen ausgebreitet auf dunklem Samt fünf Saphire. Sie waren so in kleine Mulden gebettet worden, dass ihre Bruchstellen direkt aneinander lagen und sie gemeinsam die Form eines etwas mehr als männerfaustgroßen Auges ergaben. Das heißt beinahe, denn unübersehbar fehlten zwei Teile.
»Ruach-chokma - die Weisheit, ruacheca - der Rat, ugebura - die Stärke, wejirat Jahwe - die Gottesfurcht und jirat Jahwe - die Frömmigkeit«, sagte Moshe, während sein knochiger Zeigefinger von einem Saphir zum anderen wanderte. »U-bina - die Einsicht habt Ihr jetzt in Eurem Besitz, Beatrice. Es fehlt nur noch ruach-daat - die Erkenntnis, der Stein, den Eure Tochter bei sich hat. Und dann ...«
»Dann ist das Auge vollständig!« Alis Stimme war vor Aufregung und Ehrfurcht leise. Nun, da das Auge sichtbar vor ihm lag, schien er keine Schwierigkeiten mehr zu haben, den Prophezeiungen zu glauben.
»Ja«, sagte Moshe. »Dann ist das Auge vollständig.«
»Was geschieht, wenn alle Teile wieder beisammen sind?«, fragte Beatrice in die entstandene Stille hinein. Ihr Herz klopfte heftig. Das alles war so unwahrscheinlich, so fabelhaft, so fantastisch, dass sie nicht glauben konnte, es wirklich zu erleben. Es war ein Märchen, eine Fantasiegeschichte, die Vorlage zum Drehbuch Indiana Jones und das Auge der Fatima. Und doch musste es wahr sein, denn sie spürte die Gänsehaut, die über ihren Körper kroch. Und sie spürte die sengende Hitze des Feuers im Kamin, die ihr gleichzeitig den Schweiß aus allen Poren trieb.
»Die Legende sagt, dass sich die Söhne Allahs wieder vereinen werden«, antwortete Moshe, und Beatrice schüttelte verwundert den Kopf. Sie dachte an den Konflikt zwischen Israel und den Palästinensern, die Selbstmordattentäter, die Militäraktionen im Gazastreifen und die zahlreichen sinnlosen, unschuldigen Opfer auf beiden Seiten. Und die Fidawi. Moshe selbst war Jude. Auch wenn er von den Konflikten des 20. Jahrhunderts noch nichts wissen konnte, so waren Juden und Araber bereits im Mittelalter nicht gerade freundschaftlich miteinander verbunden. Bestenfalls waren sie gleichgültige Nachbarn. War ein geeintes arabisches Volk aus
Weitere Kostenlose Bücher