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Das Auge der Fatima

Das Auge der Fatima

Titel: Das Auge der Fatima Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franziska Wulf
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riss ihn aus seinen Gedanken. Er sprang auf, ohne zu merken, dass der Barbier ihn dabei mit seinem scharfen Messer ins Ohrläppchen schnitt.
    Ali zitterte am ganzen Körper. Er hatte die Augen der Frau gesehen. Diese Augen waren blau, so blau wie der Himmel zu Beginn der Abenddämmerung.
    »Beatrice!«, brüllte er, stürmte auf die Straße hinaus und rannte der Frau mit dem Korb hinterher. Doch auf der Straße gingen viele verschleierte Frauen, die Körbe trugen. Welche von ihnen war die mit den blauen Augen? Wohin war sie gegangen? »Beatrice!«, schrie er wieder. »Bea...«
    Er brach ab. Die Menschen sahen ihn an, als hätte er den Verstand verloren, und wichen schließlich vor ihm zurück, als wäre er von einem Dämon besessen. Dann bemerkte er, dass er mitten auf der Straße stand mit Seife im Gesicht und einem Handtuch um den Hals. Vielleicht war es ja doch nur ein Trugbild.
    »Herr, wo wollt Ihr denn hin? Kommt zurück!« Der Barbier hatte ihn schließlich eingeholt und blieb keuchend neben ihm stehen. »Kommt doch zurück!«
    Verwirrt sah Ali den jungen Mann an, der flehend seine Hände hob.
    »Vergebt mir meine Ungeschicklichkeit, Herr«, sagte er. »Ich bin wahrlich untröstlich, aber ...«
    Ali runzelte die Stirn. War er jetzt wirklich verrückt geworden?
    »Wovon sprichst du eigentlich?«
    »Von Eurem Ohrläppchen, Herr, das mein Messer ein wenig geritzt hat und Euch ...«
    Ali tastete nach seinem Ohr und spürte etwas Warmes, Klebriges. Dann blickte er auf seine Finger, an denen tatsächlich Blut war. Er hatte den Schnitt nicht bemerkt. Noch einmal sah er auf und ab, in der Hoffnung, die Frau mit den blauen Augen doch noch zu entdecken. Aber sie war verschwunden. Vielleicht versteckte sie sich irgendwo und wartete, bis der Trubel sich gelegt hatte. Vielleicht. Wahrscheinlicher aber war, dass er sich getäuscht hatte. Überall, sogar hier in der kleinen Stadt Qazwin gab es Frauen mit blauen Augen. Dafür sorgten die Sklavenhändler, die in alle Länder bis weit nach Osten und Westen vordrangen und mit reicher Beute in die Städte der Gläubigen zurückkehrten.
    »Vielleicht hat es mit dem fortschreitenden Alter zu tun«, sagte Ali leise zu sich. »Allmählich werde ich wohl närrisch und sehe Personen, die nur in meinen Träumen existieren.«
    »Wie bitte, Herr?«, fragte der Barbier und sah Ali so ängstlich an, als würde er erwarten, das Todesurteil aus seinem Mund zu empfangen. »Was habt Ihr gesagt?«
    Und plötzlich verstand Ali. Einen Kunden beim Rasieren zu verletzen war beinahe das schlimmste Unglück, das einen Barbier treffen konnte. Ein Wort von ihm, und die Laufbahn des jungen Mannes würde beendet sein, noch ehe sie richtig begonnen hatte. Dabei war er wirklich geschickt. Ali bekam Mitleid mit ihm. Dass er geschnitten worden war, war schließlich seine eigene Schuld. Wäre er nicht so unvermittelt aufgesprungen, um einem Trugbild hinterherzujagen, das Messer des Barbiers hätte ihn niemals verletzt.
    »Wie ist dein Name, Freund?«, fragte er und legte beschwichtigend seinen Arm um die bebenden Schultern des jungen Mannes. Gerade war ihm eine Möglichkeit eingefallen, ihm zu helfen.
    »Kasim, Herr«, antwortete der Barbier. Er zitterte jetzt so heftig, dass seine Zähne aufeinander schlugen. Vermutlich glaubte er, dass Ali gleich die Stadtwache rufen, sein Missgeschick als Tätlichkeit darstellen und ihn deswegen anzeigen würde. Die Strafe würde ohne Zweifel hart sein. Das Gefängnis und die Folterknechte von Qazwin hatten einen Furcht einflößenden Ruf.
    »Seht her, Leute, seht her!«, rief Ali mit lauter Stimme, sodass die Menschen in der engen Straße stehen blieben und sich um ihn versammelten. »Mein Name ist Ali al-Hussein ibn Abdallah ibn Sina. Ihr kennt diesen Namen, denn ich bin der Leibarzt des Emirs. Dieser Mann hier an meiner Seite ist Kasim, der Barbier. Von seinen großen Taten will ich euch berichten. Sein Geschäft ist dort, gleich neben dem des Tuchhändlers Kemal. Ich war bei ihm, um mir den Bart stutzen zu lassen, als ich durch das Fenster ein Mädchen von so vollendeter Schönheit erblickte, dass es sich nur um einen von Allah gesandten Engel gehandelt haben kann, der an dem Geschäft des Barbiers vorüberging, um ihn zu segnen. Ich sprang auf, um diesem Engel nachzueilen. Durch diese unbedachte Bewegung muss Kasims Messer mein Ohrläppchen getroffen haben, sodass ich, wie ihr jetzt seht, blute. Aber gepriesen sei Allah, der Kasim, den Barbier, mit so begabten Händen

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