Das Auge der Fatima
hatte, gab es nicht mehr. Es war vorbei. Beatrice gehörte der Vergangenheit an und würde nie wieder zurückkehren.
Ali schloss die Augen und wandte sich ab. Es schickte sich nicht für einen Mann, in aller Öffentlichkeit seine Gefühle zu zeigen. Und doch wäre er am liebsten hier und auf der Stelle auf die Knie gesunken und hätte laut sein Schicksal beklagt.
Warum? Warum hatte Allah ihm Beatrice, die Liebe seines Lebens, nach so kurzer Zeit wieder nehmen müssen? Warum hatte sie nicht einfach bei ihm bleiben und mit ihm alt werden können? Fragen, die er sich selbst und Allah - oder Jahwe, Gott oder wie auch immer man jene Macht nennen wollte, die angeblich die Geschicke aller Menschen lenkte - in den vergangenen Jahren immer wieder gestellt hatte. Jahre, in denen nichts, keine Arbeit, kein Reichtum, keine Erkenntnis und schon gar keine andere Frau jene Leere hatten ausfüllen können, die Beatrice in seinem Leben hinterlassen hatte. Jahre, in denen kein Tag vergangen war, an dem er nicht den Verlust gespürt hatte, selbst wenn er nicht an sie gedacht hatte.
So ähnlich mussten es jene seiner Patienten empfinden, denen durch ein Unglück ein Glied fehlte. Sie berichteten ihm immer wieder davon, dass sie ihren verlorenen Arm oder ihr Bein weiterhin spürten, dass es dort juckte und schmerzte und kribbelte. Und genauso fühlte er sich. Manchmal, wenn er morgens aufwachte in seinem einsamen, kalten Bett, wünschte er nichts sehnlicher, als dass all diese Jahre lediglich ein böser Traum gewesen wären und er sich nur umzudrehen brauchte, um sie neben sich liegen zu sehen. Beatrice. Die einzige Liebe seines Lebens.
Es war spät, als Ali an diesem Abend nach Hause zurückkehrte. Er war auf seinem Heimweg noch in einem Gasthaus eingekehrt, hatte Vergessen und Trost in dem Dattelschnaps gesucht, den der Wirt dort heimlich ausschenkte, obwohl der Koran den Gläubigen den Genuss von berauschenden Getränken streng untersagte. Natürlich hatte der Schnaps ihm auch nicht helfen können. Nirgendwo fand Ali, was er suchte - kein Vergessen, kein Vergeben, keinen Frieden. Er blieb noch eine Weile vor seinem Haus stehen und lehnte sich gegen die weiß getünchte Mauer, deren Wärme immer noch an die Hitze des Tages erinnerte. Die Sonne war fast hinter den nahe gelegenen Bergen versunken und tauchte die Straßen in ein unwirkliches rotes Licht. Es sah aus, als würden die Steine und die Mauern der anderen Häuser brennen. Ein schwacher Wind trug den salzigen Geruch des Meeres nach Qazwin. Stadtdiener eilten mit Öl und brennenden Dochten an ihm vorbei, ohne ihn zu beachten. Sie hatten nicht mehr viel Zeit, um die Lampen in den vornehmen Straßen der Stadt anzuzünden. Schon bald würde die Dunkelheit hereinbrechen. Wenn sich jedoch die Gassen in völlige Finsternis hüllten, begann die Stunde der Räuber und Diebe, die sich erst in der Nacht aus ihren Verstecken hervorwagten. Die Lampen sollten sie von den Besitztümern der reichen Bürger abhalten wie die Lagerfeuer der Hirten die Raubtiere von ihren Herden.
Die Stimme des Muezzin erschallte von dem Minarett der nahe gelegenen Moschee, um die Gläubigen zum Abendgebet aufzufordern. Ali schloss die Augen, um der Stimme zu lauschen. Er war kein religiöser Mann, war es nie gewesen. Und die vergangenen Jahre hatten auch nicht viel dazu beigetragen, daran etwas zu ändern. Doch heute, an diesem seltsamen grauen, von Schwermut und Trauer durchtränkten Tag fühlte er sich alt, müde und schwach. Und für die Dauer eines Herzschlags wünschte er sich nichts sehnlicher als jenen Frieden, den die einfachen und gläubigen Männer im Gebet fanden, einen Frieden, den wohl nur Allah allein einer von Zweifeln und Unrast geplagten Seele zu schenken vermochte.
Schwerfällig hob Ali den Arm, klopfte an seine eigene Haustür wie ein Fremder und wartete. Mit Wehmut dachte er an seinen alten und treuen Diener Selim. Der Alte hatte immer gewusst, wann sein Herr nach Hause kam. Selbst mitten in der Nacht hatte er genau dann an der Tür gestanden und sie in dem Augenblick geöffnet, wenn Ali gerade angekommen war. Manchmal war es beinahe unheimlich gewesen. Und jetzt? Jetzt stand er hier in der allmählich zunehmenden Dunkelheit und wartete.
Endlich öffnete sich die Tür.
»Seid gegrüßt, Herr«, sagte Mahmud, sein Diener, und verneigte sich ehrfurchtsvoll. Auch das hätte Selim niemals getan. Der alte Kauz hätte nicht einen Augenblick gezögert, Ali darauf hinzuweisen, dass dies nicht
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