Das Auge der Fatima
die rechte Stunde sei, in der ein rechtschaffener Mann sich noch auf den Straßen der Stadt herumtreiben sollte. »Darf ich Euch Euer Obergewand abnehmen? Im Speisezimmer steht Euer Nachtmahl bereit. Wenn Ihr mir folgen wollt?«
Ali ging seinem Diener hinterher. Er hatte immer noch Schwierigkeiten, sich an Mahmuds sanftes und widerspruchsloses Wesen zu gewöhnen. Dabei war er gleich nach Selims Tod in seine Dienste getreten. Vor nunmehr fünf Jahren. Immer wieder vermisste er den alten griesgrämigen Sonderling, der stets betont hatte, dass er keinen Respekt vor einem jungen Kerl haben müsse, dem er die Windeln gewechselt und die ersten Barthaare gestutzt hatte. Natürlich hätte Selim an ihm den Geruch des Dattelschnapses bemerkt und sofort gerügt.
Ali konnte fast seine Stimme hören, diese ständig ein wenig nörgelnd klingende Stimme. »Ein Gläubiger sollte sich nie, unter gar keinen Umständen betrinken, Herr. Berauschende Getränke sind die Pflastersteine des Weges, der direkt in die Hölle führt. Vergebt mir meine Offenheit, Herr, aber wenn Ihr so weitermacht, seid Ihr auf dem besten Wege dorthin. Und ich wage zu behaupten, dass Euer ehrwürdiger Vater - Allah sei seiner Seele gnädig - keinesfalls erfreut gewesen wäre, Euch in diesem jämmerlichen Zustand zu sehen.« So sehr sich Ali früher auch über diese ständigen Mahnungen geärgert hatte, so sehr vermisste er sie jetzt. Jetzt, da er wusste, dass er sie ebenso wie das schlurfende Geräusch von Selims Schritten nie wieder mit eigenen Ohren hören würde. Sie lebten nur noch in seinen Erinnerungen.
»Hast du die Patienten fortgeschickt, Mahmud?«, fragte er und merkte, dass es ihm schwer fiel, seine Zunge unter Kontrolle zu bringen. Offensichtlich hatte er mehr getrunken, als er gedacht hatte.
»Ja, Herr«, erwiderte Mahmud ehrerbietig. Wenn ihm der trunkene Zustand seines Herrn auffiel, so ließ er sich nichts anmerken. Gar nichts. »Ich habe alles genauso befolgt, wie Ihr es mir aufgetragen habt.«
»Und ist während meiner Abwesenheit etwas vorgefallen?«, erkundigte sich Ali, während er an der Tür zum Speisezimmer seine Schuhe abstreifte. Er spürte, dass er wütend wurde. Der Gleichmut seines Dieners regte ihn auf.
»Ja, Herr«, antwortete Mahmud und sammelte Alis verstreute Schuhe ein. »Die Köchin hat sich beschwert, weil der Ziegenbock sie gestoßen hat, als sie den Hof überqueren wollte. Sie sagte, wenn es mit dem Tier so weitergeht, wird sie ihm noch den Hals umdrehen und Pastete aus ihm machen.«
Die Vorstellung der kleinen, ihm selbst kaum bis zur Brust reichenden, dafür umso beleibteren Köchin, die von dem grauhaarigen Ziegenbock quer über den Hof getrieben wurde, gefiel Ali. Seine Wut verrauchte, und er musste fast gegen seinen Willen lachen. Vor vielen Jahren hatte er den Ziegenbock von einem Hirten, einem armen, aber aufrichtigen Mann, als Gegenleistung für die Heilung seines Sohnes erhalten. Damals war er noch ein wenige Wochen altes Zicklein gewesen. Doch da Ali Ziegenfleisch nicht besonders schätzte, war das Tier nicht geschlachtet worden und zu einem stattlichen Bock herangewachsen, der seinem Hausherrn in keiner Weise an Eigensinn und Sturheit nachstand - wie Selim immer betont hatte. Mittlerweile war der Bock ins Alter gekommen. Sicher war das Fleisch zu zäh und tranig, um in der Küche Verwendung zu finden. Höchstens das Fell könnte noch irgendeinen Nutzen haben. Aber wozu? Er besaß bereits genügend Felle.
»Der Bock bleibt«, sagte Ali bestimmt. Er hatte sich an die Sturheit, die schlechten Gewohnheiten und das Gemecker des Tieres gewöhnt - besonders jetzt, da Selim nicht mehr da war. »Und sollte die Köchin damit nicht einverstanden sein, stelle ich es ihr frei, ihre Dienste einem anderen Hause anzubieten. Richte ihr dies aus, Mahmud.«
Der Diener verneigte sich. »Sehr wohl, Herr.«
Ali ging zu dem niedrigen Tisch, auf dem ein Tablett mit kaltem gebratenem Hühnerfleisch, Brot, getrockneten Aprikosen und Feigen sowie ein Krug mit klarem Wasser stand.
»Habe ich eine Nachricht erhalten?«, fragte er, während er es sich auf dem weichen Sitzpolster bequem machte. Er nahm eine der Feigen, roch daran und legte sie wieder auf den Teller zurück. Sie waren von ausgezeichneter Qualität und ohne Zweifel köstlich, doch heute würde er keine von ihnen hinunterbringen. Er würde gar nichts mehr essen, höchstens einen Schluck Wasser trinken.
»Nein, Herr«, antwortete Mahmud, schüttelte den Kopf und
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