Das Auge der Fatima
wieder zurückzubringen. Nach Hause.
Die Geier verfolgten sie weiterhin hartnäckig. Sie waren mittlerweile ein so vertrauter Anblick, dass Beatrice ihnen inzwischen sogar Namen gegeben hatte. Sie waren der einzige Beweis, dass es in dieser Gegend abgesehen von ihr noch anderes Leben gab. Am Abend, wenn Beatrice sich zum Schlafen hinlegte, ließen sich auch die Geier nieder. Sie kamen von Tag zu Tag näher. Den größten der drei, ein besonders abstoßender, zerrupft aussehender Geier mit blutunterlaufenen Augen, der offensichtlich der Anführer war, hatte sie Dr. Mainhofer getauft. Der zweite, kleiner und ein wenig rundlicher als seine Kumpane, hieß Nuh II. Am meisten fürchtete sie sich jedoch vor Senge. Er war groß, mager und hatte fast schwarzes Gefieder. Wenn sie diesem Vieh in die Augen sah, hatte sie immer den Eindruck, dass er sein Mahl liebend gern bereits begonnen hätte und dass nur die Autorität von Dr. Mainhofer ihn davon abhielt, ihr mit seinem spitzen Schnabel bei lebendigem Leib das Fleisch von den Knochen zu reißen. Wie lange würden sie sich noch von ihr fern halten? Wie lange würde sie noch gehen müssen, bis sie endlich auf Menschen traf? Und wie lange konnte sie das noch aushalten? Beatrice nahm den Stein der Fatima in die Hand. Immer wieder hatte sie dies in den vergangenen Tagen getan, um sich zu vergewissern, dass sie nicht den falschen Weg eingeschlagen hatte. Doch der leuchtend blaue Finger zeigte stets in dieselbe Richtung - nach Nordwesten.
Es war gegen Mittag des sechsten Tages. Die Sonne hatte ihren höchsten Stand erreicht und brannte Beatrice unbarmherzig auf den Rücken. Schweiß lief ihr in Strömen am Körper hinab. Dabei fühlte sie sich beinahe ebenso ausgetrocknet und gedörrt wie das spärliche graugrüne Gras, und sie fragte sich, welchen geheimen Reserven ihr Körper die Mengen an Flüssigkeit überhaupt noch entlocken konnte. Halb von Sinnen vor Hitze und Durst stolperte sie voran, immer Richtung Nordwesten, als ein jäh einsetzender Schmerz sie wieder in die Realität zurückholte. Es war ein Gefühl, als ob ihr jemand einen rostigen Nagel in den linken Fuß getrieben hätte. Sie schrie vor Schmerz und biss sich gleich darauf auf die Lippe. Vom Himmel erklang ein so triumphierendes Krächzen, und die drei Geier begannen so tief über ihr zu kreisen, als ob ihr Ende nun unmittelbar bevorstehen würde. Mühsam raffte Beatrice sich auf und humpelte weiter, doch nach einer Stunde gab sie schließlich auf. Ihr linker Fuß schmerzte bei jedem Schritt, als würde man sie zwingen, über scharfe Messerklingen zu laufen. Mit zusammengebissenen Zähnen zog sie sich den Stiefel aus und betrachtete entsetzt ihren Fuß. Kein Wunder, dass sie solche Schmerzen hatte. Es war keine neue aufgeplatzte Blase, wie sie anfangs vermutet hatte, sie war in einen Dorn getreten. Er steckte tief in ihrem blutunterlaufenen Fleisch, und die Gegend um den Einstich herum war hochrot und berührungsempfindlich. Offensichtlich hatte sich der Fuß bereits entzündet. Mit großer Willensanstrengung quetschte sie ihren heftig schmerzenden Zehenballen, bis endlich der Dorn ein winziges Stück aus der Haut herausragte, sodass sie ihn mit Daumen und Zeigefinger greifen konnte. Es war ein schweres Stück Arbeit. Ihre Hände waren durch Sonne und Trockenheit rau und rissig geworden, ihre Fingernägel schmutzig und eingerissen. Außerdem tanzten vor ihren Augen Lichtkreise, sodass sie die kleine schwarze Spitze des Dorns nicht einmal richtig erkennen konnte. Hätte sie in diesem Augenblick eine Fee getroffen, die bereit gewesen wäre, ihr einen einzigen Wunsch zu erfüllen, sie hätte nicht lange nachzudenken brauchen - sie hätte sich eine Pinzette gewünscht. Beatrice quetschte und versuchte den Dorn zu greifen, kniff sich dabei jedoch immer wieder in den Fuß und stöhnte vor Schmerz auf. Endlich, nach Stunden, wie es ihr schien, hatte sie es geschafft. Sie bekam die Spitze des Dorns zu fassen und zog ihn aus der Wunde - ein fast zwei Zentimeter langes Folterinstrument, dem Blut und Eiter folgten. Beatrice drückte und presste ihren Ballen, um das Wundsekret zu entfernen. Die Prozedur trieb ihr die Tränen in die Augen, doch sie versuchte tapfer jeden Schmerzens- schrei zu unterdrücken. Sie hatte die Befürchtung, es könnte die Geier auf falsche Gedanken bringen. Sie kamen ohnehin schon erwartungsvoll näher gehüpft, krächzten, als ob sie ihren Körper bereits unter sich aufteilen würden, und nickten
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