Das Auge der Fatima
entzündeten kleine Laternen am Bug, um die Fische anzulocken, und warfen ihre Netze aus. Sie sahen aus wie Irrlichter, die im voranschreitenden Dunkel über das Wasser schwebten. Vögel sangen in den Zweigen der Bäume ihre Abendlieder, und Schmetterlinge tanzten von Blume zu Blume. Beatrice sah sich fassungslos um. Sie kam sich vor wie ein Außerirdischer, der zum ersten Mal Kontakt zu Menschen hatte. Wie konnte die Natur einerseits so karg und unwirtlich sein und andererseits, nur wenige Schritte vom Nichts entfernt, einen derart fruchtbaren und blühenden Garten hervorbringen? Es war ein Wunder. So und nur genau so mussten sich die Menschen des Alten Testaments das Paradies vorgestellt haben. Es war, als hätte Gott ein Stück vom Garten Eden auf der Erde vergessen. Fast beiläufig registrierte sie das Fehlen jedes Anzeichens von technischem Fortschritt. Es gab keine Stromleitungen, keine Transformatoren, sie sah keine Autos und hörte auch keine Motorengeräusche. War sie etwa schon wieder im Mittelalter gelandet?
»Wir sind da!«, rief Assim fröhlich, nahm sich das Tuch vom Gesicht und glitt vom Pferd. »Das Haus dort vorne, das mit den erleuchteten Fenstern, ist das Haus von Yasminas Vater. Da sie deine Cousine ist, wirst du sicherlich unter ihrem Dach übernachten. Malek, Murrat, Kemal und ich hingegen werden von Yasminas Onkel beherbergt. Er wohnt auf der gegenüberliegenden Seite.«
Er breitete seine Arme aus, um Beatrice beim Absteigen zu helfen. Als sie jedoch auf den Boden aufkam, schrie sie vor Schmerz auf. Ihre Füße fühlten sich an wie unförmige, geschwollene Klumpen rohen Fleisches. Sie konnte nicht einmal mehr stehen.
»Was ist?«, fragte er besorgt.
»Meine Füße!«, stöhnte Beatrice und versuchte sich auf das Pferd zu stützen, das jedoch unwillig zur Seite tänzelte. »Auf meinem Weg durch die Wüste bin ich in einen Dorn getreten und habe mir den Fuß verletzt.«
»Warte, Sekireh!«, sagte Assim sofort. »Ich werde einen der Diener herbeiholen, damit wir dich ins Haus tragen können.«
Und schon im nächsten Augenblick war er davongelaufen, dem hell erleuchteten Haus entgegen. Beatrice sah ihm mit gemischten Gefühlen nach. So schön es war, endlich die schreckliche Wüste hinter sich gelassen und wieder fruchtbares grünes Land erreicht zu haben, so unwohl war ihr jetzt zumute. Es war nur noch eine Frage der Zeit, bis ihre Lüge entdeckt werden würde. Yasmina und ihre Eltern würden natürlich sofort wissen, dass sie keine Cousine namens Sekireh zur Hochzeit erwarteten, und ihren Schwindel bemerken. Und dann? Was sollte sie tun, wenn man Rechenschaft von ihr forderte? Sollte sie leugnen? Sollte sie die Wahrheit sagen oder einfach alles mit sich geschehen lassen, in der Hoffnung, dass man Mitleid mit der Fremden haben würde, die einsam und ohne Wasser und Nahrung tagelang durch die Wüste geirrt war? Aber was würde man mit ihr tun? Wenn sie viel Glück hatte, würde man sie einfach wieder zurück in die Wüste jagen. Doch daran glaubte sie nicht. Viel wahrscheinlicher war es, dass man sie in den Kerker sperren oder gleich an Ort und Stelle steinigen, ihr die Hände abhacken oder etwas ähnlich Schreckliches tun würde. Die Strafen, die das islamische Gesetz für alle möglichen Arten von Vergehen vorsah, waren drakonisch. Und sie gab sich nicht der trügerischen Hoffnung hin, dass die Strafen für Lügner milder sein würden als für Diebe.
Beatrice bekam Angst. Ihr Herz klopfte bis zum Hals, ihr wurde speiübel. Sollte sie davonlaufen und sich verstecken, bevor es zu spät war? Doch kaum hatte sie diesen Einfall in Erwägung gezogen, als sie ihn auch schon wieder verwarf. An Flucht war überhaupt nicht zu denken. Nicht mit ihren wunden, blutig gelaufenen Füßen. Sie würde keine hundert Meter weit gehumpelt sein, bis die Männer sie eingefangen hatten. Und danach hätte sie bestimmt keine Gnade mehr zu erwarten. Abgesehen davon hatte sie ohnehin keine Zeit mehr. Assim kam bereits zurück, einen breitschultrigen, hoch gewachsenen Mann im Schlepptau. Was sollte sie jetzt tun? Was konnte sie jetzt überhaupt noch tun, ohne sich auf Anhieb verdächtig zu machen? Beatrice griff in ihren Beutel, in dem der Stein der Fatima lag, und wünschte sich in diesem Augenblick nichts sehnlicher, als dass es in der Macht des Saphirs stünde, seine Trägerin bei Bedarf unsichtbar werden zu lassen.
»Schau nur, Sekireh!«, rief Assim schon von weitem und winkte ihr fröhlich zu. Er konnte ja
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