Das Auge der Fatima
nicht ahnen, was wirklich in ihr vorging. »Schon bin ich wieder zurück. Und bei mir habe ich ein Paar starker Arme, die dich schneller als der Wüstenwind ins Haus tragen werden!«
»Du hast dich wirklich sehr beeilt«, erwiderte Beatrice und versuchte wenigstens so zu tun, als ob sie sich über den Anblick des Dieners freuen würde. Der Mann war jung, sah gut aus, und er war riesig. Er trug ein ärmelloses Hemd, sodass seine mehr als gut entwickelten Muskeln wirklich optimal zur Geltung kamen. Vor ihr, zum Greifen nahe, stand Mister Universum. Beatrice schluckte. Allerdings waren seine Muskeln nicht das Produkt von isometrischen Übungen, Anabolika und proteinhaltiger Spezialnahrung. Sie waren echt. Hinter diesen Muskeln steckte Kraft. Vermutlich war der Mann in der Lage, ihr mit einem einzigen Griff seiner großen Hände den Arm zu brechen.
Vielleicht wäre es doch besser gewesen, davonzulaufen?, dachte Beatrice und lächelte ihn gequält an. Würden sie sich in Hamburg befinden und sie in einer Werbeagentur arbeiten, hätte sie ihm auf der Stelle einen Casting-Termin angeboten. Aber in ihrer Situation konnte sie sich über seinen Anblick nicht freuen. Nicht in einer Oase mitten unter Beduinen.
»Herrin«, sagte der Diener und verneigte sich vor ihr. Seine Muskeln bewegten sich unter seiner makellosen braunen Haut, die schimmerte, als hätte er sich mit einem kostbaren Öl eingerieben. »Vertraut mir.«
Und ohne auf eine Antwort zu warten, hob er sie auf seine Arme, als wäre sie leicht wie eine Feder, und ging mit ihr dem hell erleuchteten Eingang entgegen.
»Bis morgen, Sekireh!«, rief Assim ihr fröhlich nach. »Wir sehen uns bei der Hochzeit!«
Doch Beatrice achtete kaum auf ihn. Sie waren etwa fünfzig Meter vom Haus entfernt. Sie wurde immer nervöser. Was sollte sie tun? Was sollte sie sagen, wenn sie den Hausherren vorgestellt würde? Noch vierzig Meter.
O bitte, Stein der Fatima, hilf mir!, flehte sie stumm und umklammerte den Saphir voller Verzweiflung. Noch dreißig Meter. Dieser Diener ging erschreckend schnell.
Bitte lass mich ohnmächtig werden. Dann kann ich wenigstens nach dem Erwachen eine Amnesie vortäuschen.
Noch zwanzig Meter. Die Haustür stand weit offen. Dahinter sah sie den mit Fackeln hell erleuchteten Innenhof. Schatten huschten vorbei. Vielleicht waren es Diener, vielleicht waren es aber auch die Hausherren, die ihr entgegenkamen, um ihren Gast, die weit gereiste »Cousine«, willkommen zu heißen.
Zu spät!, dachte Beatrice, und ihr Magen verkrampfte sich zu einem harten, schmerzhaften Klumpen. Es ist zu spät! Gleich werden sie deinen Schwindel durchschauen, und dann ...
Nur noch zehn Meter.
»Hab Vertrauen!«, flüsterte ihr eine Stimme zu, die verblüffende Ähnlichkeit mit der Stimme von Frau Alizadeh hatte, jener Frau, die ihr vor Jahren ihren ersten Stein der Fatima geschenkt hatte. »Der Stein weiß immer, was er tut.«
Beatrice schloss die Augen. Sie war jetzt auf das Schlimmste gefasst.
Der Diener setzte seinen Fuß über die Schwelle.
Ich vertraue dir, ich vertraue dir, ich vertraue dir ...
Hewlett-Packard
6.
D och es kam alles ganz anders. Als Beatrice ihre Augen wieder aufschlug, befand sie sich mitten in einem wunderschön angelegten Innenhof mit blühenden Beeten und Brunnen, die leise vor sich hin plätscherten. Hunderte von brennenden Fackeln und Talglichtern sorgten anstelle von elektrischem Licht für Helligkeit. Diener liefen mit Krügen und dampfenden Schüsseln umher, aus denen ein so köstlicher Duft aufstieg, dass Beatrice augenblicklich das Wasser im Mund zusammenlief. Das Trockenobst, das die vier Brüder ihr gegeben hatten, war eben doch nicht ausreichend, um den Magen nachhaltig zu füllen. Eine kleine, schmale Frau, gekleidet in ein knöchellanges Gewand aus dunkelblauem Stoff, kam mit eiligen Schritten auf sie zu.
»Ist das unsere liebe Cousine?«, fragte sie den Diener.
Der Mann nickte. Beatrice hielt den Atem an, als sich die Frau ihr zuwandte. Jetzt war es so weit. Gleich würde sie sagen, dass sie Beatrice nicht kenne, dass dies nie im Leben eine Cousine sei, dass sie eine Schwindlerin sei, eine Hochstaplerin, deren Hände man abhacken sollte, deren Zunge man herausschneiden ...
»Sei willkommen, Sekireh«, sagte sie rasch und atemlos, so als hätte sie eigentlich überhaupt keine Zeit, hier zu stehen und Gäste zu empfangen. Ein nervöses Lächeln glitt hektisch über ihr Gesicht. »Es freut mich, dass du uns besuchst. Vor allern
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