Das Auge der Fatima
Außerdem musste sie sich immer wieder in Erinnerung rufen, dass sie sich nicht im christliehen Europa und vermutlich auch nicht im 21. Jahrhundert befand. Dies hier war der Orient, vielleicht sogar das Mittelalter. Die kleine Dienerin hätte sie bestimmt nicht verstanden.
In den Augen der Kleinen muss ich wirklich zutiefst unglücklich sein, eine Versagerin auf ganzer Linie, dachte Beatrice nicht ohne einen Anflug von Humor. Mein Leben ist verpfuscht. Ich habe nichts als eine Tochter und bin noch nicht einmal verheiratet. Eigentlich ist es ein Wunder, dass ich meinem unglücklichen, minderwertigen Dasein nicht schon längst ein Ende bereitet habe.
Das Mädchen steckte den letzten Haarkamm an Beatrices Hinterkopf fest und betrachtete zufrieden ihr Werk. Dann reichte sie ihr ein Tuch aus dunkelblauer Wolle, das so groß war, dass Beatrice sich mühelos ganz und gar darin hätte einwickeln können. Sie legte es Beatrice über den Kopf und schlang die eine Seite kunstvoll über die Schulter. Offensichtlich war dies der Schleier. Bei Bedarf konnte man ihn sich einfach vor das Gesicht ziehen, ohne den ganzen Tag vermummt wie ein Bankräuber herumlaufen zu müssen. Eine wesentlich angenehmere Interpretation des Verschleierungsgebots, als sie es noch von Buchara gewohnt war.
Beatrice schlurfte mühsam zur Tür, vor der der Diener immer noch geduldig wartete. Er verneigte sich stumm vor Beatrice und hob sie wieder auf seine Arme.
»Dein Name ist Nima?«, fragte Beatrice, bevor er sich in Bewegung setzte.
»Ja, Herrin.«
»Ich möchte dich um einen Gefallen bitten, Nima.«
»Ja, Herrin?« Er sah sie aufmerksam aus Augen an, die die Farbe von Schokolade hatten, leckerer, verführerisch köstlicher Schokolade.
»Setze mich wieder ab, noch ehe wir den Festsaal erreichen, Nima«, sagte Beatrice. »Wenn ich meiner Cousine und ihren Gästen gegen übertrete, möchte ich nicht getragen werden wie eine alte lahme Frau, sondern dies auf eigenen Füßen tun.«
»Wie Ihr es wünscht, Herrin«, entgegnete der Diener in einem Ton, der ihr deutlich zeigte, dass es ihm im Grunde egal war, ob er sie nur den Gang hinunter oder einmal quer durch die Oase tragen musste. Doch ihr war es nicht egal. Sie kannte schließlich ihr eigenes Geschlecht. Im Festsaal zu erscheinen, getragen von diesem kraftstrotzenden jungen gut aussehenden Mann würde ohne Zweifel Aufsehen erregen. Alle Frauen würden den Diener anstarren, jede seiner Bewegungen beobachten, ihre Köpfe zusammenstecken und über ihn reden - und dabei zwangsläufig auch sie selbst bemerken. Und das wollte Beatrice auf keinen Fall riskieren. Je weniger Aufmerksamkeit sie an diesem Abend auf sich ziehen würde, umso besser.
Nima hielt sein Wort und setzte Beatrice außer Sichtweite des Eingangs zum Festsaal ab. Die restlichen Meter legte sie mühsam zurück, jeder einzelne Schritt wurde zur Qual. Ihre Füße fühlten sich an, als würde sie jetzt auf den blanken Knochen laufen. Doch sie biss tapfer die Zähne zusammen und war dankbar, dass niemand ihr nicht besonders anmutiges Schlurfen sehen konnte. Sie würde ihr Tuch vor das Gesicht ziehen, sich ein sicheres Plätzchen in einer unscheinbaren Ecke des Saals suchen und sich nicht eher wieder erheben, bis das Mahl beendet war.
Als sie jedoch durch die weit offene Tür in den Festsaal trat, blieb ihr fast das Herz stehen. Darin befanden sich wohl über zweihundert Frauen jeden Alters. Sie alle waren festlich gekleidet. Ihre kunstvollen Frisuren waren mit Haarkämmen verziert, an denen Perlen, Edelsteine, Gold und Perlmutt im Licht hunderter Öllampen schimmerten. Die Frauen unterhielten sich, lachten und riefen sich Begrüßungen zu, ohne nicht auch die anderen mit kritischen, zum Teil auch neidischen Blicken zu mustern. Nicht eine der Frauen war verschleiert.
Noch mehr Kopfzerbrechen als die fehlende Möglichkeit, sich zu verhüllen, bereitete Beatrice jedoch die Sitzordnung. Im Gegensatz zu üblichen arabischen Festmählern, bei denen niedrige Tische kreuz und quer im ganzen Raum verteilt waren, um die sich dann die Gäste in kleinen Gruppen zusammenfanden, gab es hier lediglich zwei große Kreise - einer für die älteren Frauen, einer für die jungen. Die Tische und Sitzpolster waren dabei so angeordnet, dass jede Frau mit dem Gesicht zur Kreismitte hin saß. Und dort, im Zentrum, thronten die Hausherrinnen auf einem mit Teppichen und Polstern ausgestatteten Podest - mit einem ungetrübten Blick auf jeden Einzelnen ihrer
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