Das Auge der Fatima
Qazwin als Flüchtling verlassen müssen.
Natürlich hatte Ali daran gedacht, Saddins Rat zu befolgen und sich an den jüdischen Ölhändler zu wenden. Doch nachdem er sich endlich dazu durchgerungen und einen Boten zu dem Geschäft des Juden geschickt hatte, um einen Zeitpunkt für ein Treffen vorzuschlagen, war der Bote mit der Nachricht zurückgekehrt, dass Moshe Ben Levi nicht zu sprechen sei. Weitere Nachrichten, die Ali dem Ölhändler geschickt hatte, waren entweder unbeantwortet geblieben oder kamen mit der lapidaren Mitteilung zurück, dass Ali, sofern er Öl kaufen wolle, sich doch bitte an die üblichen Geschäftszeiten halten möge.
Ali hatte keine Hoffnungen mehr, dass man seinen Wunsch nach einem Gespräch mit dem Ölhändler jemals beherzigen würde. Seiner Erfahrung nach hatten diese Juden gar nicht die Absicht, mit anderen außer den Angehörigen ihres eigenen Volkes zu verkehren. Wie Saddin es geschafft hatte, an Moshe Ben Levi heranzukommen, mochte allein Allah wissen. Allerdings waren auch in Buchara Fäden aus allen Teilen der Stadt - angefangen von den Diebesbanden bis hin zu den höchsten Ämtern im Palast des Emirs - in den Händen des Nomaden zusammengelaufen.
Ali ließ das Schloss des Kastens zuschnappen und hob ihn hoch. Sein Blick fiel auf die Tür. Dort, direkt neben dem Eingang, war Saddin gestorben. Am folgenden Morgen hatten Männer aus seiner Sippe die Toten abgeholt, um Saddin und die Fidawi ihren Traditionen gemäß zu bestatten, und noch am selben Tag hatten die Diener alle Spuren des Kampfes beseitigt. Trotzdem hatte Ali jedes Mal den Eindruck, er könne im Sternenlicht immer noch die Blutlache neben der Tür sehen. Manchmal kam er sogar im Laufe des Tages hier herauf, nur um im Licht der Sonne sicherzugehen, dass das Blut des Nomaden nicht doch unauslöschbare Flecken auf dem steinernen Boden hinterlassen hatte.
»Herr.« Die Tür öffnete sich, und Mahmud streckte seinen Kopf hindurch. »Das Kind ist eben aufgewacht. Es verlangt Euch zu sehen.«
»Ich bin hier ohnehin fertig, Mahmud. Ich gehe gleich zu ihr«, erwiderte Ali und wunderte sich wieder einmal über seinen Diener. Michelle war bereits seit mehreren Wochen bei ihm, und trotzdem brachte Mahmud immer noch nicht ihren Namen über seine Lippen. Er sah ihr noch nicht einmal ins Gesicht, so als würde er sich vor dem kleinen Mädchen fürchten.
»Soll ich Euch den schweren Kasten abnehmen, Herr?«, fragte Mahmud und streckte seine Hände aus.
»Ja«, antwortete Ali und dachte gleichzeitig voller Wehmut an seinen alten Diener Selim. Selbst wenn man ihm mit dem Tod gedroht hätte, hätte er den Kasten nicht einmal mit den Fingerspitzen berührt. Zeit seines Lebens hatte der alte Mann Alis Fernrohr für Teufelswerk gehalten. Und der Klang von Selims Gebeten für die Rettung der Seele seines Herrn hatte Ali jede Nacht begleitet, solange er die Sterne beobachtet hatte. »Bringe das Fernrohr in mein Arbeitszimmer, und schließe es dort in die Truhe.«
»Jawohl, Herr«, sagte Mahmud, verneigte sich und ging davon. Dabei trug er den Kasten so vorsichtig, wie man es von einem Untergebenen angesichts eines wertvollen Gegenstandes erwarten konnte.
Mahmud ist wahrlich ein ausgezeichneter Diener, dachte Ali. Er ist loyal und gehorsam, und nie höre ich ein Wort der Klage oder des Widerspruchs. Aber trotz allem, alter Selim, ich vermisse dich.
Schwerfällig stieg er die schmalen Stufen in sein Haus hinunter. Es hatte den Anschein, als ob er dazu verdammt wäre, immer von den Menschen, die ihm etwas bedeuteten, verlassen zu werden. Erst war es Beatrice, dann Selim und nun auch noch Saddin. Für einen kurzen Augenblick blitzte in seinem Gehirn ein Gedanke auf. Noch vor wenigen Wochen hätte er den Nomaden gewiss nicht zu seinen Freunden gezählt, im Gegenteil.
Manchmal belehren die Ereignisse einen Mann eines Besseren, dachte Ali voller Schwermut. Und manchmal ist es dann zu spät. Man kann nichts mehr ändern, die Zeit lässt sich nicht zurückdrehen. Das Schicksal lässt es nicht zu, die Fehler der Vergangenheit zu korrigieren.
»Ali?«
Eine liebliche Mädchenstimme riss ihn aus seinen düsteren Gedanken. Und kurz darauf hörte er in dem Zimmer am Ende der Treppe das Tappen von kleinen nackten Füßen auf dem Marmorboden. Es war Michelle.
»Ali, bist du hier?«
»Ja, meine Kleine«, antwortete Ali und trat in das Zimmer ein. Der Anblick des kleinen Mädchens, der Klang seiner Stimme spülte jeden Schmerz und Kummer aus ihm
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