Das Auge der Fatima
heraus wie reinigendes Wasser den Eiter aus einer verschmutzten Wunde. Michelle stand vor ihm, barfuss, die langen blonden Haare hingen offen über ihren Schultern. Im Arm trug sie ein Bündel Tücher, das sie eigenhändig zu etwas verknotet hatte, das sie »Rehkitz« nannte. Der Saum ihres Nachthemds schleifte fast auf dem Boden, so klein war sie. Dieses Kind war ein Geschenk. Mehr noch, ohne es zu wissen, war es seine Rettung. Ali ging in die Knie und breitete seine Arme aus. »Konntest du nicht mehr schlafen?«
Die Kleine kam auf ihn zugelaufen und schlang ihre Arme um seinen Hals.
»Nein.«
»Hast du Hunger? Wollen wir frühstücken?«
»Ja«, sagte sie und nickte eifrig. »Gibt es Honig?«
»Natürlich, meine Kleine. Honig und Pfannkuchen. Auch Sirup, wenn du magst.« Er erhob sich und reichte ihr die Hand. »Komm, wir gehen gemeinsam hinunter.«
Auf dem Weg zum Speisezimmer hüpfte sie neben ihm fröhlich auf und ab. Gerührt sah Ali ihr zu. Michelle hatte die Welt, wie sie sie kannte, hinter sich gelassen. Eine Weile war Saddin ihr ständiger Begleiter gewesen, und jetzt hatte er die Aufgabe übernommen, sie zu beschützen. Das kleine Mädchen war von grausamen Männern verfolgt worden, und seine Mutter war mehr als meilenweit von ihr entfernt. Sie waren durch Äonen voneinander getrennt, und doch nahm die Kleine diese Situation mit einem Gleichmut und mit einer Anpassungsfähigkeit hin, die ihn immer wieder in Erstaunen versetzte. Viele erwachsene Männer und Frauen hätten in einer ähnlichen Lage ihren Verstand verloren. Und sie vergoss nicht einmal Tränen. Obwohl sie so klein und zerbrechlich wirkte, war sie unglaublich stark. Und manchmal, wenn er in Michelles klare blaue Augen sah, hatte er den Eindruck, dass sie mehr wusste, viel mehr, als einem etwa vierjährigen Mädchen zustand.
Nach dem Frühstück begann Ali wie an jedem Morgen mit seiner Arbeit. Vor den Toren seines Hauses warteten bereits Scharen von Patienten. Einige waren sogar mehrere Tage gewandert, nur um sich von dem berühmten Arzt behandeln zu lassen. Mahmud brachte einen nach dem anderen zu ihm ins Arbeitszimmer, wo Ali tränende Augen untersuchte, eiternde Wunden aufschnitt, Verbände anlegte, Salben und Kräuterelixiere verordnete. Die meisten seiner Patienten sahen ihn mit den großen, hoffnungsvollen Augen von Kindern an. Sie folgten jeder seiner Anweisungen ohne Widerspruch und küssten manchmal sogar beim Gehen den Saum seines Gewands. Doch es gab auch andere, unangenehme Zeitgenossen, die jedes einzelne seiner Worte dreimal umdrehten, bis sie ihm endlich glaubten - oder auch nicht. Bei diesen Patienten stellte er sich regelmäßig die Frage, weshalb sie überhaupt zu ihm gekommen waren.
So wie der etwa sechzigjährige Mann, den Mahmud kurz vor der Mittagszeit zu ihm führte. Dieser Mann gehörte eindeutig zu den besonders unangenehmen Patienten. Er war einer der Muezzins von der nahe gelegenen Moschee. Laut seinen Angaben litt er bereits seit einigen Wochen unter Heiserkeit und einem Schmerz im Mund und Hals, sodass er die Gebetszeiten nicht mehr ausrufen konnte und sich mittlerweile von einem seiner Schüler vertreten lassen musste. In der Tat ähnelte die Stimme des Mannes dem heiseren Krächzen einer Krähe. Für den Muezzin offenbar ein so unhaltbarer Zustand, dass er sogar bereit gewesen war, Ali al-Hus- sein, den unter den Geistlichen in Qazwin höchst verfänglichen Arzt mit dem skandalösen Lebenswandel, aufzusuchen.
Ali wusste, dass er sich bei diesem Patienten auf gar keinen Fall auch nur den geringsten Fehler leisten durfte, wenn er nicht Qazwin noch schneller als erwartet wieder verlassen wollte. Besonders sorgfältig tastete er den Hals ab. Das war kein leichtes Unterfangen bei dem stattlichen weißen Bart, der dem Muezzin bis auf die Brust hinabhing.
Trotzdem spürte Ali bei seiner Untersuchung unter den Fingerspitzen jene kleinen Knoten an der Unterseite des Kiefers, die Beatrice »Lymphknoten« genannt hatte. Sie hatte ihm erzählt, dass diese kleinen Knoten einen Hinweis darauf geben konnten, ob sich in einer Körperregion eine Entzündung abspielte oder nicht. Ali konnte sich zwar bis heute nicht genau vorstellen, wie das alles zusammenhing und was Beatrice genau damit gemeint hatte, doch hatte er in den vergangenen Jahren stets Recht gehabt, wenn er sich an diesen Hinweis gehalten hatte.
»Öffnet den Mund«, forderte Ali den Muezzin auf und holte aus einer Schublade eine kleine Öllampe und einen
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