Das Auge der Fatima
wie er die Zähne zusammen- biss. »Sollte Assim etwas geschehen, werde ich dich persönlich in siedendem Öl ertränken, so wie man es mit Hexen macht.«
Beatrice sah in seine dunklen, vor Zorn blitzenden Augen und schluckte. Malek meinte es ernst, daran gab es keinen Zweifel.
Allah, dachte Beatrice, da bin ich ja mal wieder in eine ganz tolle Lage geraten. Was mache ich, wenn Assim vom Scheitel bis zur Sohle gelähmt ist? Aber selber schuld. Warum musste ich auch schon wieder die Notärztin im Dienst spielen?
»In meiner Heimat habe ich geschworen, den Kranken zu dienen und sie nach bestem Wissen und Gewissen zu behandeln. Wir nennen es den >Eid des Hippokrates<«, sagte sie ebenso leise. »Sei also gewiss, selbst wenn mir Assim und sein Schicksal gleichgültig wären, wäre ich durch diesen Schwur dazu verpflichtet, alles zu tun, was in meiner Macht steht. Allerdings sind auch mir manchmal die Hände gebunden. Und da ich nicht über Zauberkräfte verfüge, kann ich dir also nichts versprechen.«
»Gut«, sagte Malek und richtete sich auf. »Wir werden sehen.«
Kurz danach kamen die beiden anderen Brüder mit der improvisierten Trage herbei. Sie hatten tatsächlich in Yasminas Besitz ein paar Tische gefunden, die sie aneinander gebunden hatten. Und viele der Kissen, die sie bei sich hatten, kamen Beatrice bekannt vor. Es sah so aus, als hätten sie die halbe Sänfte geplündert.
»Sehr gut«, sagte sie. »Jetzt legt die Trage direkt neben Assim auf den Boden.«
Der Junge lag immer noch mit geschlossenen Augen auf der Seite. Dann zeigte sie Malek und seinen Brüdern, wo und wie sie Assim anfassen mussten, um ihn vorsichtig und ohne die Wirbelsäule zu drehen oder zu quetschen auf die Trage hinüberzuheben.
»Auf drei!«, kommandierte Beatrice. »Eins, zwei und ... drei!«
Assim stöhnte auf, doch gleich darauf lag er sicher und weich gepolstert auf der Trage. Tränen rollten über sein hübsches Jungengesicht.
»An dir ist ein Mann verloren gegangen, Sekireh!«, sagte er und lächelte zaghaft. »Schon lange hat niemand mehr es gewagt, meinem Bruder Malek Befehle zu erteilen.«
Beatrice lächelte, auch wenn ihr gerade nicht danach zumute war. Am Krankenbett sollte ein Arzt nicht weinen. Nicht einmal dann, wenn die Tapferkeit eines vierzehnjährigen Jungen einem derart ans Herz ging.
»Assim, höre mir jetzt gut zu«, sagte sie und beugte sich so über ihn, dass er sie ansehen konnte, ohne den Kopf dabei zu drehen. »Ich werde jetzt mit der Untersuchung fortfahren. Du beantwortest bitte schnell und ohne zu überlegen meine Fragen. Dies ist keine Prüfung deines Wissens oder Könnens. Ich brauche nur eine ehrliche Antwort.«
Beatrice klopfte das Herz bis zum Hals, als sie einen langen Grashalm herausriss und mit ihm über die Innenseite der Arme des Jungen strich. Was, wenn er nichts spürte? Wenn beim Sturz nicht nur die Wirbelsäule, sondern auch das Rückenmark verletzt worden war? Wenn er querschnittsgelähmt war? In diesem Augenblick dachte sie nicht einmal mehr an Maleks Drohung. Sie hatte den fröhlichen, unbeschwerten Assim innerhalb dieser kurzen Zeit so fest in ihr Herz geschlossen, dass der Gedanke, ihn für den Rest seines Lebens im Rollstuhl sitzen zu sehen, schier unerträglich war.
»Fühlst du das?«, fragte sie und wartete unruhig auf die Antwort.
»Ja, das kitzelt«, sagte Assim, und Beatrice hätte ihn dafür küssen können. »Ist das ein Grashalm?«
»Richtig geraten. Und wie ist es damit?«
Sie krempelte die Beine seiner weiten Hose hoch und strich mit dem Grashalm über die Haut der Oberschenkel.
»Das kitzelt auch.«
Beatrice zog die Stiefel von Assims Füßen und berührte seine Zehen.
»Und das?«
»Beim Barte des Propheten! Willst du mich etwa foltern?«, rief Assim aus. »Hör auf damit, ich bin kitzlig!«
Beatrice fiel der erste Stein vom Herzen. Anscheinend hatte er keine Störungen in der Sensibilität. Aber was war mit seiner Motorik? Die musste sie auch noch prüfen.
»Das hast du alles sehr gut gemacht, Assim. Jetzt lege die Fingerspitzen aneinander.« Er schaffte es ohne Probleme. »Und nun drücke meine Hände so fest du kannst. Das reicht!«, rief sie lachend. »Du zerquetschst mir ja die Hand! Und jetzt, das ist auch schon das Letzte, was ich von dir verlange, wackle mit den Zehen.«
Alle zehn Zehen bewegten sich gleichmäßig. Beatrice schloss für einen Moment die Augen und schickte ein Dankgebet zum Himmel. Ihr war fast schwindlig vor
Weitere Kostenlose Bücher