Das Auge der Fatima
Vergebung«, sagte er und fragte sich, weshalb er diesem alten Mann, der so schwach und zerbrechlich aussah, nicht mit dem gleichen Selbstbewusstsein gegenübertreten konnte wie anderen. Er war nicht Abraham. Er war ein Händler, ein Kaufmann, ein gewöhnlicher alter Mann, nichts weiter. Und trotzdem ... Selbst Abraham war letztlich nichts als ein Hirte gewesen. »Es war nicht meine Absicht, Euch bei Euren Zeremonien zu stören.«
»Ich weiß, Ali al-Hussein, ich weiß. Es ist nicht Eure Schuld. Diese ständigen Sticheleien, die Angst, die wir andauernd um unser Hab und Gut, um unser Leben ausstehen müssen, ist nur ein Teil des uralten Bruderstreits, des Streites zwischen Raheis und Sarahs Kindern.«
Die beiden Frauen Abrahams, dachte Ali. Seltsam, dass der Alte ausgerechnet sie erwähnt. Ob er Gedanken lesen kann? Oder ist er am Ende sogar wirklich und wahrhaftig ...? Er sah den alten Juden an. Das war nicht möglich, das konnte nicht sein, selbst bei allem, was er über die Steine der Fatima wusste, konnte dieser Mann niemals ...
Moshe lächelte, aber diesmal wirkte sein Lächeln traurig.
»Wir beide, Ali al-Hussein, werden in unserer Lebensspanne den Streit zwischen den Brüdern nicht schlichten können, ganz gleich, wie viel Mühe wir uns geben mögen. Und das wird sich auch in hunderten von Jahren nicht ändern. Dabei ist dieser Streit so töricht.« Er seufzte. »Aber Ihr habt nicht den Weg in diesen entlegenen Winkel der Stadt auf Euch genommen, um dem Geschwätz eines alten Mannes zu lauschen. Was habt Ihr auf dem Herzen, Ali al-Hussein ibn Abdallah ibn Sina?«
Ali hatte sich seine Worte sorgfältig zurechtgelegt. Den ganzen Tag über und sogar noch auf dem Weg hierher hatte er genau gewusst, was er dem Juden sagen wollte. Doch in diesem Augenblick fiel ihm nichts mehr davon ein. Gar nichts. Es war, als hätte der eisige Wind in der Gasse alle Gedanken aus seinem Kopf vertrieben.
»Saddin schickt mich«, sagte er und ärgerte sich schon im nächsten Augenblick über sich selbst. Das klang ja beinahe, als sei er nichts weiter als der Bote eines anderen! »Ich meine, er hat mir empfohlen, mich an Euch zu wenden, falls ich jemals Fragen in einer ganz bestimmten Angelegenheit haben sollte. Er sagte, Ihr könntet mir helfen.«
»Sagte er das?« Erneut glitt ein Lächeln über das Gesicht des alten Mannes. »Nun, dann wird es wohl stimmen. Und?«
Unter dem erwartungsvollen Blick des alten Juden wurde Ali heiß. Plötzlich kam er sich töricht vor, und der Wunsch, einfach aufzustehen und wieder nach Hause zu gehen, wurde übermächtig.
Bleib!, befahl eine innere Stimme. Denk immer daran, wer du bist. Du bist Ali al-Hussein ibn Abdallah ibn Sina, der Leibarzt des Emirs. Du brauchst dich nicht vor einem alten Juden zu fürchten. Außerdem wirst du das Rätsel niemals lösen können, wenn du jetzt feige bist.
»Es geht um ein Sternbild«, sagte er schließlich.
Moshe Ben Maimon setzte sich auf seinem Stuhl auf.
»Ein Sternbild?«, fragte er, als glaubte er sich verhört zu haben. »Vergebt mir meine Überraschung, Ali al-Hussein, aber ich fürchte, da kann ich Euch nicht weiterhelfen. Ich bin ein bescheidener Ölhändler und Rabbi. Ich kenne mich in der Welt des Handels und den heiligen Schriftrollen meines Volkes aus und könnte Euch vermutlich fast jede Frage hierzu beantworten, aber ich bin wahrlich kein Sterndeuter. Ich fürchte, Ihr müsst Euch an jemanden wenden, der ...«
»Natürlich handelt es sich nicht um ein gewöhnliches Sternbild«, unterbrach ihn Ali verärgert. Hatte Saddin nicht gesagt, dass dieser Jude alles wisse? Nun schien es so, als hätte sich der Nomade nur einen Scherz mit ihm erlaubt. Oder stand er etwa vor dem falschen Mann? »Es ist auf keiner der mir bekannten Sternkarten verzeichnet. Das Sternbild, von dem ich spreche, hat die Form eines Auges.«
Der alte Jude ließ sich langsam auf seinem Stuhl zurücksinken.
»Ein Auge? Das klingt in der Tat interessant«, sagte er. Doch Ali hatte den Eindruck, dass er vorsichtig geworden war. Die hellen Augen fixierten ihn, als wollte er bis in die Tiefen seiner Seele hinabschauen. »Aber es war nicht meine Absicht, Euch zu unterbrechen. Fahrt fort.«
Ali erhob sich und begann in dem Zimmer auf und ab zu gehen. Einerseits konnte er sich so besser konzentrieren, andererseits entkam er auf diese Weise dem forschenden Blick des alten Mannes.
»Seit vielen Jahren schon pflege ich regelmäßig den Sternenhimmel zu beobachten. Doch jenes
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