Das Auge der Fatima
von diesem niederen Gefühl befreien können. Es war schändlich.
Um sich abzulenken, ließ er seinen Blick durch den Raum schweifen. Auf einem niedrigen Tisch neben ihm standen zwei Schalen. In der einen lagen geröstete Mandeln, in der anderen ein paar frische Datteln. Ali, der plötzlich Hunger verspürte, nahm eine Mandel und roch daran. Sie duftete wahrhaft köstlich. Er warf die Mandel in den Mund. Sie war so frisch geröstet, dass sie noch warm war, und ein wunderbarer, nie gekannter Geschmack, eine ungewöhnliche, aber überaus delikate Komposition der verschiedensten Gewürze breiteten sich auf seiner Zunge aus. Ali griff wieder zu und wieder. Er konnte kaum noch aufhören. Gerade wollte er sich erneut eine der köstlichen Mandeln nehmen, als plötzlich die Tür aufging. Der junge Jude war zurückgekehrt. Erschrocken, als hätte man ihn bei einem Diebstahl ertappt, ließ Ali seine Hand wieder sinken. Es war nur noch eine einzige Mandel auf dem Teller übrig. Doch wenn der Jude das bemerkte und sich darüber wunderte oder amüsierte, so ließ er es sich wenigstens nicht anmerken.
»Der Rabbi ist jetzt bereit, Euch zu empfangen, Herr«, sagte er so höflich, wie man es sich nur wünschen konnte, und verneigte sich. »Wenn Ihr mir bitte folgen wollt?«
Ali wurde durch das Haus geführt, vorbei an einem zauberhaften Innenhof, in dem Rosen und Mandelbäume blühten und ihren lieblichen Duft verbreiteten. Der Jasmin wuchs hier so üppig, dass er die Mauern, die den Garten umgaben, fast vergessen ließ. Ein Marmorbrunnen, in dessen Mitte blühende Seerosen schwammen, plätscherte leise vor sich hin und übertönte das grausige Pfeifen des eisigen Windes, der hoch über ihren Köpfen hinwegwehte. An einigen besonders lauschigen Plätzen standen steinerne Bänke, und zahlreiche Statuen von Löwen und Delfinen bewachten den Garten. Hier war nichts mehr von der düsteren Atmosphäre der Gasse. Und obwohl Ali sicher war, das direkt hinter der Mauer der Friedhof lag, war von der Nähe der Toten, von Trauer, Schmerz, Abschied und Verzweiflung nichts zu spüren. Im Gegenteil, es schien, als wäre es dem Juden Ben Maimon gelungen, mitten in der Trostlosigkeit dieser Gegend ein Bollwerk gegen den Tod zu errichten und dem Leben ein Denkmal zu setzen.
Die beiden Männer stiegen eine schmale Treppe zum ersten Stockwerk hinauf und betraten ein hell erleuchtetes Zimmer. Durch die offenen Fenster wehte der Duft der Blumen herein. Und obwohl die Fenster weit offen standen, war es nicht kalt in diesem Raum, da in einer Ecke ein lebhaftes Feuer brannte.
»Kommt herein, Ali al-Hussein ibn Abdallah ibn Sina«, sagte ein Mann, der auf einem Stuhl mit ungewöhnlich hoher Lehne saß. »Kommt herein.«
»Salam, Moshe Ben Maimon!«, erwiderte Ali, verneigte sich, wie es die Regeln der Höflichkeit geboten, und betrachtete seinen Gastgeber.
Ihm war nicht klar, was er erwartet hatte, wie er sich den Rabbi, der angeblich alles über die Steine der Fatima wusste, vorgestellt hatte, doch er konnte nicht leugnen, dass er überrascht war. Moshe Ben Maimon war ein kleiner, zerbrechlich wirkender Mann mit schlohweißem Haar, der auf seinem großen Lehnstuhl fast zu verschwinden schien. Und er war alt, sehr alt, obwohl Ali ebenfalls nicht genau klar war, woher er das wusste, denn das Gesicht des Rabbis war beinahe jugendlich glatt. Nur seine Haut war weiß und wirkte fast durchsichtig. Und seine hellen, freundlichen Augen waren so voller Weisheit und Güte, dass es gar keine andere Möglichkeit gab. Er musste alt sein.
»Shalom, Ali al-Hussein!«, erwiderte Moshe Ben Maimon den Gruß auf jüdische Art. »Es freut mich, Euch endlich in meinem Haus willkommen heißen zu dürfen.«
Ali runzelte die Stirn. Der alte Jude klang, als hätte er ihn bereits seit langem sehnsüchtig erwartet. Doch hatte er nicht mehrere Briefe mit der Bitte um ein Treffen an den Juden geschickt? War er nicht bisher jedes Mal abgewiesen worden, wenn man überhaupt geruht hatte, ihm zu antworten? Wenn der Jude ihn also unbedingt zu sehen wünschte, weshalb hatte er ihn dann nicht schon viel früher empfangen? Obwohl es ihn reizte, den Alten auf diesen Widerspruch aufmerksam zu machen, schwieg er. Er war zur Höflichkeit erzogen worden.
»Vergebt mir, dass ich Euch bisher nicht auf Eure Briefe geantwortet habe«, sagte Moshe Ben Maimon, und Ali fragte sich, ob ihm seine Gedanken so deutlich auf der Stirn geschrieben standen. »Allerdings war ich mir nicht sicher, ob die
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