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Das Auge des Basilisken

Das Auge des Basilisken

Titel: Das Auge des Basilisken Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kingsley Amis
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gebundenen Band heraus und schlug ihn auf. Er seufzte tief und wendete die Seiten stirnrunzelnd und mit einem Anschein entschiedener Zweckbestimmtheit. Schließlich las er laut:
     
    »Die letzten Blätter fegt herab der Wind,
    Und schneeumhüllt die nackten Erlen;
    Doch Hoffnung weckt der matten Sonne Schein,
    Mit Bildern heißer Sommerwiesen,
    Von Lebenslust erfüllt.«
     
    Er klappte das Buch mit einem lauten Schlag zu und knallte es aufs Regal zurück, oder versuchte vielmehr, es zwischen seine Nachbarn zu zwängen, ohne diese mit der freien Hand auseinanderzuhalten. »Scheiße! Der Esel hat keine Ahnung. Kommt den niemand darauf? Wenn mir nur jemand sagen könnte, was ich fühle!« Vor der Tür waren Schritte zu hören, aber er fügte mit lauter, bebender Stimme hinzu: »Ach, wenn nur! Wenn nur!« Das seinem Ausruf folgende Klopfen war viel entschiedener als jenes vor zehn Minuten gewesen war, und die Haltung seiner Schwester Nina, die gleich darauf eintrat, hatte nichts behutsam Vorfühlendes.
    Sie war neunzehn, mittelgroß, nicht dünn, mit rostbraunem Haar und einem blassen, gutgeschnittenen Gesicht, dessen Ausdruck jedoch zu freundlich war, um als schön betrachtet zu werden. Ihr geblümter Baumwollrock, die weiße Bluse und die hellviolette Weste, auch aus Baumwolle, aber wie Seide gewebt, waren mit Sorgfalt und Wirkung ausgewählt. Sie sah ihren Bruder mit einem Lächeln an, in welchem, wie es bei ihr oft der Fall war, sich Zuneigung und Heiterkeit vereinten.
    »Wieder Selbstgespräche, was?« sagte sie in freundlichem, etwas kehligem Ton.
    »Habe ich?« sagte Alexander hochmütig. »Und wenn?«
    »Absolut nichts, mein Lieber, sei dessen versichert. Mama bat mich, mit dir zu sprechen, wie du vermutet haben wirst.«
    »Ich vermute solche Dinge nicht.«
    »Du nicht, nein. Sie sagte, du machtest Schwierigkeiten wegen des Abendessens heute. Ich bin hier, dich zu überreden, daß du zusagst. Was hält dich überhaupt zurück?«
    Alexander zögerte. Schließlich sagte er: »Ich habe keine Lust, mit Direktor Vanag an einem Tisch zu sitzen.«
    »Was bringt dich auf die Idee, daß er kommen wird?«
    »Gewöhnlich ist er bei solchen Zusammenkünften dabei. Du weißt es.«
    »Diesmal nicht. Direktor Vanag ist in Moskau.« Nina hatte sich auf den am wenigsten unbequemen der Birkenholzstühle niedergelassen und schob sich ein fransenbesetztes Kissen hinter den Kopf. »Statt seiner wird der stellvertretende Direktor Korotschenko anwesend sein.«
    »Ist Vanag in Schwierigkeiten?«
    »Nicht, daß ich wüßte. Wahrscheinlich erstattet er nur seinen gräßlichen Bericht und erhält seine gräßlichen Anweisungen. Der stellvertretende Direktor Korotschenko bringt seine Frau mit.«
    »Das läßt sich denken. Wieso?«
    »Du würdest nicht sagen ›wieso?‹, wenn du sie gesehen hättest, alter Knabe«, erwiderte Nina.
    »Wo hast du sie gesehen? Wie hast du all dies erfahren?«
    »Sie waren letzte Woche mit uns zum Picknick.« Sie hielt inne. »Warum fragst du mich nicht, wie sie ist?«
    »Du bist unmöglich, weißt du. Also gut, wie ist die Frau?«
    »Da fängst du schon wieder an; das ist keine Art, von ihr zu reden. Wie soll ich es ausdrücken? Sie ist dein Typ.«
    »Was soll das bedeuten?«
    »Es bedeutet einen verdrießlichen, übelgelaunten Blick und einen enormen Busen.«
    »Was für ein dummes Zeug! Das ist nicht mein Typ. Kitty hat keinen verdrießlichen, übelgelaunten …« Alexander brach ab.
    Wieder lachte seine Schwester in einer Weise, wie keine Frau es tun würde, die für schön gehalten wird. »Du bist köstlich, weißt du. Wirklich köstlich.« Ohne ihn aus den Augen zu lassen, während er ärgerlich den Kopf schüttelte, lachte sie wieder. »Nun, abgesehen davon, daß sie dein Typ ist, würde es mich nicht überraschen, wenn du der ihrige wärst.«
    »Und was soll das bedeuten?«
    »Nur, daß der verdrießliche Blick ein unzufriedener Blick sein könnte, und daß der stellvertretende Direktor Korotschenko bald sechzig sein muß, während seine Frau nicht viel älter als fünfunddreißig sein kann. Vielleicht hätte ich sagen sollen, einen unbefriedigten Blick, oder einen nicht ausreichend befriedigten Blick, nicht wahr?«
    »Ich habe wirklich keine Ahnung, worauf du hinauswillst«, sagte Alexander, wieder hochmütig.
    Eine kurze Pause folgte. Nina kratzte sich am Hals und blickte aus dem Fenster. Ohne den Kopf zu wenden, sagte sie in verändertem Ton: »Wenn du willst, sage ich Anatol, wo du heute zu Abend

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