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Das Auge des Leoparden

Das Auge des Leoparden

Titel: Das Auge des Leoparden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henning Mankell
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zwischen Schuhen, stehengebliebenen Armbanduhren und rostigen Schrauben. Vor vielen Jahren fiel sein Blick einmal darauf, als er in der Schublade nach etwas suchte: Insekten hatten den Umschlag angenagt und das Ticket unlesbar gemacht.
    Was war eigentlich geschehen?
    Er lauscht und hat auf einmal das Gefühl, wieder in seinem Bett in dem Holzhaus am Fluß zu liegen. Ob es Winter oder Sommer ist, kann er nicht sagen. Der Vater schnarcht in seinem Zimmer, und er denkt: bald, sehr bald wird das Holzhaus die Vertäuungen kappen und flußabwärts treiben, zum Meer …
    Was war geschehen? Warum ist er in Afrika geblieben, an diesem Fluß, auf dieser Farm, wo er miterleben mußte, daß seine Freunde ermordet wurden und wo es ihm fast so vorkam, als wäre er nur noch von Toten umgeben?
    Wie konnte er nur so lange mit einem Revolver unter dem Kopfkissen leben? Für einen Menschen, der an einem nordschwedischen Fluß aufgewachsen ist, an einem Ort und in einer Zeit, in der niemand auch nur auf die Idee gekommen wäre, nachts die Tür abzuschließen, geschweige denn jeden Abend zu kontrollieren, daß der Revolver geladen ist und niemand die Patronen gegen leere Hülsen ausgetauscht hat, ist das nicht normal. Es ist nicht normal, umzingelt von Haß zu leben.
    Wieder versucht er zu verstehen. Bevor die Malaria oder die Banditen ihn besiegt haben, will er wissen …
    Er spürt, daß sich ein neuer Fieberanfall ankündigt. Plötzlich hat das Heulen in seinem Kopf aufgehört. Jetzt sind nur noch die Frösche und das grunzende Flußpferd zu hören. Als das Fieber sich wie eine Sturmwelle auf ihn wirft, krallt er sich am Bettuch fest.
    Ich muß durchhalten, denkt er verzweifelt. Solange ich noch meinen Willen habe, wird das Fieber mich nicht besiegen. Wenn ich mir das Kissen auf das Gesicht lege, hört man nicht, wie ich schreie, wenn die Fieberphantasien mich plagen.
    Das Fieber läßt das Gitter herab. Er glaubt zu sehen, daß der Leopard, der sich immer nur zeigt, wenn er krank ist, am Fußende des Betts liegt. Die Raubkatze hat ihm ihr Gesicht zugewandt. Ihre kalten Augen blicken starr.
    Er ist gar nicht da, denkt Hans Olofson. Er jagt nur in den Höhlen meines Inneren. Mit Hilfe meiner Willenskraft kann ich auch ihn besiegen. Sobald das Fieber abgeklungen ist, gibt es diesen Leoparden nicht mehr. Dann übernehme ich wieder die Kontrolle über meine Gedanken und Träume. Dann gibt es ihn nicht mehr …
    Was ist eigentlich geschehen, denkt er erneut, und die Frage hallt in ihm wider.
    Plötzlich weiß er nicht mehr, wer er ist. Das Fieber verjagt ihn aus seinem Bewußtsein. Der Leopard wacht auf seinem Bett, der Revolver ruht an seiner Wange.
    Das Fieber treibt ihn in die endlosen Ebenen hinaus.

E IN TAG Ende September 1969.
    Er hat versprochen zu bleiben und Judith Fillington bei der Arbeit auf der Farm zu helfen. Als er am ersten Morgen in dem Zimmer mit den schrägen Winkeln erwacht, sieht er auf einem Stuhl einen Overall mit geflickten Knien.
    Luka, denkt er. Während ich schlafe, erledigt er, was sie ihm aufträgt.
    Leise legt er einen Overall auf den Stuhl, betrachtet mein Gesicht und verschwindet wieder.
    Er schaut aus dem Fenster, überblickt das weitläufige Gelände der Farm und ist erstaunlich aufgekratzt. Für den Moment scheint er seine Angst überwunden zu haben. Ein paar Wochen kann er ruhig bleiben und ihr helfen. Die Reise nach Mutshatsha liegt schon weit zurück, ist nur noch eine Erinnerung. Da er nun auf Judiths Farm ist, tritt er nicht länger in Janines Fußstapfen.
    Während der heißen Morgenstunden lauscht Hans Olofson dem Evangelium der Hühner. Er und Judith sitzen im Schatten eines Baums, und sie erklärt ihm alles.
    »Fünfzehntausend Eier pro Tag«, sagt sie. »Zwanzigtausend Legehennen, Auffüllkolonien von mindestens fünftausend Tieren als Ersatz für die Hennen, die keine Eier mehr legen und geschlachtet werden. Jeden Samstag verkaufen wir sie im Morgengrauen. Die Afrikaner warten manchmal die ganze Nacht in stummen Schlangen. Wir verkaufen die Hühner für vier
kwacha
das Stück, sie verkaufen die Hühner dann auf dem Markt für sechs oder sieben
kwacha
…«
    Sie sieht aus wie ein Vogel, denkt er, wie ein unruhiger Vogel, der die ganze Zeit darauf wartet, daß der Schatten eines Falken oder Adlers auf seinen Kopf fällt. Hans Olofson hat den Overall angezogen, der beim Aufwachen auf dem Stuhl lag. Judith trägt eine ausgebleichte und schmutzige Khakihose, ein rotes Hemd, das ihr viel zu groß

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