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Das Auge des Nachtfalters: Mystery-Roman (German Edition)

Das Auge des Nachtfalters: Mystery-Roman (German Edition)

Titel: Das Auge des Nachtfalters: Mystery-Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lena Klassen
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das als Knurren aufzufassen, denn sie stimmte solidarisch mit ein.
    „Ich muss das allein machen“, sagte ich noch einmal, mehr zu mir als zu ihr, und hatte jetzt schon Angst vor Ricos Schweigen.

    An diesem Abend konnte ich es mir schenken, Rico draußen im Garten zu suchen. Wir hatten schließlich gesehen, wie er davongeradelt war. Aber am nächsten Abend würde ich ihn zur Rede stellen - wenn er denn überhaupt je wieder auf dem Grundstück auftauchte. Natürlich hielt Tatjana es nicht so lange aus. Sie redete pausenlos davon, dass sie in der Mittagspause in die Pizzeria wollte, bis ich schließlich klipp und klar sagte: „Du bleibst hier, verstanden? Ich gehe. Alleine.“
    Ich konnte ihr ja schlecht erzählen, dass ich befürchtete, Rico könnte flüchten, wenn sie mitkam. Er war nun mal ein bisschen seltsam.
    Okay, vielleicht auch mehr als bloß ein bisschen.
    Ich ließ Tatjana im Laden und marschierte entschlossen die Straße hinunter. Das Dorf hätte ruhig etwas größer sein können, denn ich näherte mich erschreckend schnell meinem Ziel, vorbei an der Bäckerei, ein paar schlichten Wohnhäusern und einem Deko- und Geschenkeladen. Je näher ich meinem Ziel kam, umso langsamer wurde ich. Jetzt hätte ich Tatjana gerne an meiner Seite gehabt, um mir moralische Unterstützung zu geben. Jeder Schritt fiel mir unendlich schwer. Würde er sich freuen, dass ich kam? Unsere Treffen im Garten waren etwas Besonderes. Würde der Zauber auch hier wirken?
    Vor der Theke mit den Eissorten wartete eine Traube Kinder. Durch die Schwingtür von „Bei Silvio“ drangen herrliche Gerüche nach Tomatensoße und Kräutern. Einige Leute waren der Versuchung bereits erlegen und verzehrten ihr Mittagsmahl draußen, im Schatten der kleinen Sonnenschirme, die zwischen den weißen Tischen platziert waren. Im Slalom umrundete ich die Sitzgruppen und stand bald wieder auf dem leeren Bürgersteig. Doch sofort packte mich das schlechte Gewissen. Gott, war ich feige! Entschlossen drehte ich mich wieder um, mit dem festen Vorsatz, jetzt endlich reinzugehen und nach Rico zu fragen.
    Und da sah ich ihn. Ein schmaler Durchgang führte von der Straße zum Hinterhof der Pizzeria und einem winzigen Garten, der nur aus einem Flecken sonnenverbranntem Rasen bestand. Hinter einem Holzzaun aus weiß gestrichenen Latten saß der Junge, den ich suchte. Er hatte es sich auf einem Gartenstuhl gemütlich gemacht, mit dem Rücken zu mir, und genoss lesend die Sonne.
    Ich konnte kaum glauben, dass ich ihn wirklich gefunden hatte. In den vergangenen Wochen war es mir beinahe so vorgekommen, als würde es ihn nur im Garten meines Onkels geben. Aber er war real. Er war hier.
    Möglichst leise öffnete ich das kleine Tor im Zaun - nur eine Drahtschlinge, die um den nächsten Pfosten gelegt war - und schlich auf ihn zu.
    Alle Fragen verflüchtigten sich, je näher ich ihm kam. Er war es, kein Zweifel. Ich kannte dieses Profil, kannte den Schwung der Nase, die schwarzen Haare, die sich über die Stirn legten, die Hände, die das Taschenbuch hielten. Dass er las, war mir sympathisch. Auch über seine Hobbys hatte Rico stets Stillschweigen bewahrt, als sei es ihm peinlich.
    Von hier aus sah ich den Hinterausgang des Restaurants, eine Ecke mit Mülltonnen und einem Aschenbecher auf einem Tischchen. Rico trug noch eine Schürze über seinen Klamotten, anscheinend machte er bloß kurz Pause.
    Schon war ich hinter ihm und legte ihm die Hände über die Augen. Erwischt!
    Er zuckte zusammen, fasste sich aber erstaunlich schnell. „Soll ich raten?“ Er klang gut gelaunt, so locker wie dieser Sommertag sein sollte. Und gleichzeitig herrlich vertraut. So sehr mein Rico.
    Ich konnte nicht anders. Keinen Augenblick hatte ich vorher darüber nachgedacht, sonst hätte ich mich bestimmt dafür entschieden, es nicht zu tun. Aber ich dachte nicht nach, sondern war einfach spontan.
    Ich küsste ihn.
    Meine Lippen trafen auf seine. Sie waren warm und weich, und ich merkte, wie gut er roch. Aus seinen Haaren stieg der Duft von Zwiebeln und Tomatensoße.
    Was für ein leckerer Junge.
    Was für ein Kuss. Sehr sanft und zärtlich. Vorsichtig. Ich vergaß zu denken. In diesem Moment war ich nur glücklich, so glücklich wie nie zuvor in meinem Leben.
    Dann zog ich meine Hände von seinen Augen zurück und fand … Überraschung.
    Erschrocken machte ich einen Schritt rückwärts.
    Das war nicht Rico.
    Er sah aus wie Rico, aber eben nur fast. Nun, da ich sein ganzes Gesicht sehen

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