Das Auge des Nachtfalters: Mystery-Roman (German Edition)
und dann taucht einer von ihnen plötzlich wieder auf und wohnt in Onkel Vincents Garten. Das ergibt doch keinen Sinn. Warum sollte er damit hinterm Berg halten?“
„Wer, er? Dein Rico oder dein Onkel?“
„Beide“, meinte ich. „Wenn Rico Enrico Meyrink ist oder meinetwegen auch Ricardo Meyrink, dann ist das hier sein Schloss und sein Anwesen, und die Hälfte der Firma würde ihm gehören. Das kann man doch nicht unter den Teppich kehren.“
„Vielleicht hat er was Schlimmes erlebt und traut sich nicht an die Öffentlichkeit. Du weißt schon, jahrelang in einem Erdloch gelebt oder so was.“
Ich wusste, dass wir hier einen Traum träumten, der einfach zu schön war, um wahr zu sein. Mir war klar, was diese Nachricht meinem Vater bedeuten würde. Er hatte um die beiden entführten Kinder getrauert, als wären es seine eigenen, und er trauerte immer noch. Zu erfahren, dass sie nicht ermordet worden waren, würde sein Leben verändern. Onkel Vincent wusste das; er hätte es uns bestimmt nicht verschwiegen, wenn einer der verlorenen Söhne vor der Tür gestanden hätte.
„Es gibt noch eine andere Möglichkeit.“ Tatjana trat ans Fenster und spähte hinaus in den Garten. „Aber ich fürchte, sie wird dir nicht gefallen.“
„Welche denn?“, fragte ich.
„Onkel Vincent weiß anscheinend wirklich nichts davon, dass dieser Typ sich hier rumtreibt. Der sich Rico nennt, gut aussieht und einen auf geheimnisvoll macht. Der immer nur mit dir spricht und mit niemandem sonst.“
„Was willst du damit sagen?“ Ich wusste nicht, worauf sie hinauswollte.
„Jeder kann sich Rico nennen“, sagte sie. „Jeder, der ein bisschen recherchiert, kann herausfinden, wie die Jungen geheißen haben. Er kann sich die Haare färben, wenn er nicht zufällig schwarze hat. Er kann sich an ein Mädchen heranschmeißen und ihr Interesse wecken. Und dabei Böses planen.“
„Was soll er denn planen?“, fragte ich, aber bei jedem ihrer Worte lief mir ein Schauer über den Rücken.
„Na, was wohl?“ Sie riss das Fenster auf und ließ einen Schwall feuchtwarmer Sommerabendluft herein. „Dich zu entführen.“
Sauron hatte genug spioniert und segelte an ihr vorbei ins Freie.
Überraschungspizza
Es gab für Frau Behr nichts Schöneres, als gleich zwei verwöhnte Mädchen herumzukommandieren. Mittlerweile hatte ich mich ganz gut mit ihr zusammengerauft, aber mit Tatjana an der Seite war ich ziemlich abgelenkt. Wir stritten den ganzen Tag, was besonders anstrengend war, da wir in verschlüsselter Form kommunizierten.
„Sag es ihm. Du musst es ihm sagen.“
„Nein.“
„Du musst!“
„Will ich aber nicht.“
„Dann tu ich es.“
„Untersteh dich.“
So oder so ähnlich ging es in einem fort. Tatjana wollte unbedingt, dass ich meinen Onkel ins Vertrauen zog und ihm erklärte, warum sie den verbotenen Namen am Abendbrotstisch ausgesprochen hatte. Sie war der festen Überzeugung, dass ich in großer Gefahr schwebte.
Gut, Rico war übertrieben geheimnisvoll. Natürlich war es möglich, dass das einfach seine Masche war, um mich irgendwann fortzulocken. Einen Teenager zu entführen ist nicht so einfach, wie ein Kleinkind zu verschleppen. Tatjana war davon überzeugt, dass der junge Mann, der sich Rico nannte, mein Vertrauen erringen wollte, damit ich freiwillig mit ihm mitging.
„Auf wie viele Millionen spekuliert er wohl?“, überlegte sie, während Frau Behr gerade vorne im Laden war und wir eine neue Ladung Kisten auspackten. „Was bist du deinem Onkel wert?“
„Er kennt mich ja kaum.“
„Das dürfte wohl keine Rolle spielen. Nichte ist Nichte. Und er hat schließlich keine eigenen Kinder. Fünf Millionen? Zehn?“
„Rico ist nicht so. Ich vertraue ihm.“
„Na, dann hat er sein Ziel schon erreicht.“
Ich hätte sie gerne angeschrien, aber aus Rücksicht auf Frau Behr unterließ ich es.
„Hör endlich auf“, zischte ich. Ich fühlte mich beschmutzt, wenn sie so über ihn redete. Den ganzen Tag stand mir sein Gesicht vor Augen. Sein scheues Lächeln. Und wie er zugegeben hatte, dass er sich vor der Einsamkeit fürchtete, das war nicht gespielt gewesen. Diese Nähe zwischen uns war echt. So seltsam er sich manchmal auch benahm, wie konnte ich daran zweifeln, dass das, was ich empfunden hatte, echt war? Wie konnte ich auch nur denken, dass er sich bloß mit mir traf, weil ich mit Onkel Vincent verwandt war? Dass er mich ausgewählt hatte - als Opfer?
„Er mag mich“, beharrte ich.
„Na, kann
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