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Das Auge des Nachtfalters: Mystery-Roman (German Edition)

Das Auge des Nachtfalters: Mystery-Roman (German Edition)

Titel: Das Auge des Nachtfalters: Mystery-Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lena Klassen
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ja sein“, räumte Tatjana ein. „Vielleicht wollte er dich in sich verliebt machen, und stattdessen hat er sich in dich verknallt. Und jetzt weiß er nicht, was er tun soll. Sein Komplize macht Druck, aber er bringt es nicht übers Herz, dir einen Sack über den Kopf zu stülpen.“
    „Was für ein Komplize?“
    „Ach komm, du glaubst doch nicht, dass er das alleine durchzieht? Für den Meyrink-Entführer ist er zu jung. Wahrscheinlich ist er sowieso für das Ganze zu jung. Er gehorcht nur seinem Auftraggeber. Deshalb ist er nun verzweifelt, und das berührt dein Herz und du steckst umso tiefer in der Scheiße.“
    „Du solltest Drehbücher verfassen“, schlug ich vor. „Bei deiner Fantasie.“
    „Danke.“ Sie grinste mich an. „Aber ich meine es durchaus ernst. Dein Rico ist ein falsches, verlogenes Miststück. Gibt es eigentlich eine männliche Form dafür? Na, auch egal. Wenn du mich vom Gegenteil überzeugen willst, dann stell mich ihm vor. Heute noch.“
    „Er will nicht, das weißt du doch.“
    „Eben das macht ihn verdächtig, findest du nicht?“
    Das Schlimme war, dass sie recht hatte. Und langsam begann der Zweifel an meinem Herzen zu nagen.

    Zurück im Schloss, tröstete Tatjana erst einmal Winky, weil sie so lange hatte warten müssen, und danach bestellten wir uns eine Pizza bei Silvio. Romina, die Köchin, hatte frei, und ich wollte nicht schon wieder was aus dem Laden essen, obwohl der Küchenschrank reichlich mit „Riebeck & Meyrink“-Waren bestückt war. Es reichte mir, die Regale einzuräumen. Man sollte meinen, dass man davon Appetit bekam, aber bei mir war eher das Gegenteil der Fall. Ich hatte keinen Hunger, nicht auf die Sachen, die ich den ganzen Tag vor Augen gehabt hatte. Und ich hatte auch keine Lust mehr zu diskutieren. Also ließ ich Tatjana reden, während wir warteten, und zeichnete. Meine Hände bewegten sich, ich schaute kaum hin. Manchmal war mir, als hätten meine Finger Augen.
    Schließlich hörte sie auf zu quasseln. „Du hörst mir gar nicht zu!“
    „Es ist ja nicht so, dass du das alles nicht schon hundertmal gesagt hättest.“
    Tatjana setzte sich neben mich an den großen Esstisch und starrte auf meinen Skizzenblock. „Das ist aber keine deiner üblichen Karikaturen.“
    Der Kreidestift verweilte in den kohlschwarzen Strähnen des Jungen, den ich gerade porträtiert hatte. Ich hatte sein Bild ständig vor mir, daher brauchte ich nicht mal ein lebendes Modell. Ich hätte ihn im Schlaf zeichnen können. Den Schwung der Brauen, die Wimpern, die Form seiner Augen.
    „Wow, ich wusste gar nicht, dass du das so gut kannst.“
    „Danke.“
    Sie betrachtete das Bild, während ich das kleine Grübchen in sein Kinn einfügte. Die Wimpern betonte. Schatten auf seine Wangenknochen legte.
    „Ist er das?“, fragte Tatjana vorsichtig.
    Ich nickte.
    „Mit dem würde ich auch mitgehen. Ehrlich.“
    Mir war danach, zu schweigen und zu träumen, aber sie konnte nie lange den Mund halten.
    „Gott, ist der süß“, sagte sie.
    Meinetwegen hätten wir eine Viertelstunde lang andächtig Ricos Porträt betrachten können, doch ausgerechnet jetzt schellte es, und Winky geriet in Ekstase. Tatjana sprang auf. „Das ist die Pizza. Wo war noch mal die Haustür?“
    „Du musst erst das Tor öffnen.“ Auf dem Bildschirm neben dem automatischen Öffner winkte eine Gestalt.
    „Pizzabote mit Fahrrad! Gibt es in diesem Kaff nicht mal ein Pizzataxi?“
    „Mit dem Rad ist man schneller hier als mit dem Auto, dann kann man die Abkürzung durch den Wald nehmen. Ich deck schon mal den Tisch, gib du ihm das Geld, ja?“ Ich drückte auf die Taste, die das Tor öffnete, und kehrte an den Esstisch zurück, um die Teller bereitzustellen.
    Tatjana ging an die Tür.
    „Alicia!“, keuchte sie.
    „Ja?“ Ihr Ruf klang so dringend, dass ich ihr nacheilte. „Reicht das Geld nicht, oder was?“
    Der Pizzajunge stand vor der Haustür und machte ein mürrisches Gesicht. „Die Dreiundzwanzig a und die Vierzehn, mit Oliven und ohne Peperoni“, sagte er. „Das stimmt doch, oder?“
    Mich traf fast der Schlag.
    „Stimmt das, Alicia?“, fragte Tatjana. „Die Dreiundzwanzig war für dich?“ Ihre Lippen formten die Worte: Ist er das?
    „Ja“, sagte ich, obwohl ich in diesem Moment zu allem Ja gesagt hätte.
    Es war Rico. Der Pizzajunge. Mein Rico.

    Ich stand nur da, zur Salzsäule erstarrt, während Tatjana ihm das Geld in die Hand drückte. Der Junge sprang schon wieder die Stufen hinunter,

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