Das Auge des Nachtfalters: Mystery-Roman (German Edition)
gelebt habe“, sagte Luca. „Also lass uns dafür sorgen, dass das nicht geschieht, ja? Ganz langsam. Wir wissen, dass da die Treppe ist. Wir können sie bloß nicht sehen.“
Wussten wir das? War das überhaupt die richtige Richtung? Mir blieb nichts anderes übrig, als ihm zu vertrauen. Die Füße vorwärtszuschieben. Meine Arme waren so taub, dass ich nichts fühlte. Da war nur sein fester Griff um mein Handgelenk, der einzige Anhaltspunkt in der Nacht.
Von irgendwoher ertönte ein Heulen und Rauschen. Blaue Lichter zuckten durch die Finsternis. Ganz kurz konnte ich die gegenüberliegende Wand erkennen. So weit war sie gar nicht mehr entfernt.
Ich machte einen Schritt nach vorne, einen mutigen, großen, verzweifelten Schritt, und unter uns zerbrachen die Bretter wie eine Schicht trockenes Brot.
Ich rutschte weg. Schrie. Luca riss mich zu sich, wir fielen, knallten gegen Holz, rutschten, stürzten, fielen, überschlugen uns. Im blauen Licht wurde die Treppe sichtbar, an der wir hinunterkrachten. Dann ein Ruck und wir lagen auf einer Stufe, an der wir uns festklammerten. Ich keuchte vor Schmerz. Neben mir stöhnte Luca, ohne mich loszulassen.
Hier unten waren die Lichter heller. Die Sirenen schwollen zu ohrenbetäubender Lautstärke an, und irgendjemand riss die Tore weit auf. Im zuckenden Licht strömten dunkle Gestalten in die Halle.
Die Wahrheit über Rico
„Was machst du denn.“ Onkel Vincent war bleich. „Wie kannst du mich so erschrecken!“
Ich lag auf dem weißen Krankenhausbett und war mir nicht sicher, ob ich noch lebte, denn alles fühlte sich anders an als sonst. Wie ein seltsamer Albtraum. Grelle Bilder liefen vor meinem inneren Auge vorbei. Und die Dunkelheit war mir immer noch nah, wie eine zweite Decke lag sie über mir. Eine Finsternis, die nach Staub und Sägemehl schmeckte, nach dem sanften Flügelschlag der Motten und nach einer Stimme, die dicht neben mir sagte: Ich habe Angst zu sterben, bevor ich gelebt habe.
„Hast du meine Eltern angerufen?“
„Natürlich“, sagte er. „Und sie sind außer sich, das kannst du mir glauben.“
„Kommen sie her? Holen sie mich ab?“
Ich hielt voller Angst die Luft an, doch Onkel Vincent schüttelte den Kopf. „Ich konnte deiner Mutter klarmachen, dass du dich beim Spielen ein bisschen verletzt hast, dass aber nichts wirklich Schlimmes passiert ist.“
„Beim Spielen“, wiederholte ich bitter. Das klang, als wäre ich eine tollpatschige Achtjährige, die andauernd auf Bäume kletterte und genauso regelmäßig hinunterstürzte.
„Wenn ich es richtig verstanden habe, will sie es Tobias gar nicht erzählen, weil es ihre Idee war, dass du mich besuchst. Du müsstest es ihm selbst sagen, finde ich. Auch wenn ihn das nur darin bestätigt, dass du hier bei mir in Lebensgefahr schwebst. Ich habe dir ein neues Handy besorgt.“
Onkel Vincent klang traurig und mutlos, und das brachte mich dazu, mich schuldig zu fühlen. Mit dieser Aktion hatte ich nicht nur mich in Schwierigkeiten gebracht, sondern auch ihn. Schließlich war er für mich verantwortlich, solange ich bei ihm wohnte. Sobald mein Vater davon erfuhr, dass ich verletzt war, würde er mich todsicher sofort nach Hause holen.
„Ich ruf ihn gleich nachher an“, versprach ich, damit Onkel Vincent es nicht tat. Natürlich hatte ich keineswegs vor, dieses Versprechen zu halten.
Er war noch nicht fertig. „Was hast du dir bloß dabei gedacht? Ich habe dir doch gesagt, dass du bei den alten Gebäuden nichts zu suchen hast. Das ist kein Kinderspielplatz!“
„Tut mir leid“, sagte ich. „Ehrlich.“
Er seufzte. „Das genügt nicht, Alicia. Du hättest ums Leben kommen können. Dass es nur bei ein paar Schrammen und einer angeknacksten Rippe geblieben ist, grenzt an ein Wunder. Ihr hättet beide sterben können, du und dieser Junge!“
Dieser Junge. Luca. Luca hatte mir das Leben gerettet. Rico hatte versucht, mich umzubringen. Waren es wirklich zwei Jungen? Ich war mir immer noch nicht sicher.
„Willst du ihn sehen?“, fragte Onkel Vincent. „Er steht im Flur. Ganz schön angeschlagen, dein Held.“
„Nein, lieber nicht.“ Ich schämte mich dafür, dass ich immer noch an Luca zweifelte, dass ich nicht an ihn denken konnte, ohne auch an Rico zu denken, aber ich war zu müde, um gegen meine Unsicherheit anzukämpfen. Gib mir deine Hand, hatte er gesagt. Lass los. Du musst loslassen. Das ist der einzige Weg, Alicia. „Nein, ich will ihn nicht sehen.“
„Na gut“,
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