Das Auge des Nachtfalters: Mystery-Roman (German Edition)
ich Onkel Vincent besuchte, und wenn bekannt wurde, dass mir etwas passiert war, hatte sie verloren und mein Vater gewonnen. Daher war sie mehr als erleichtert, als ich beteuerte, es würde mir gut gehen und eigentlich wäre das alles bloß eine Kleinigkeit.
Die Wahrheit war allerdings, es ging mir überhaupt nicht gut. Die Gedanken rasten in meinem Kopf herum wie bockige Wildpferde und mein ganzer Körper tat so weh, dass ich mich kaum rühren konnte. Ich wartete, aber Tatjana kam nicht zurück. Winky schnarchte auf meiner Decke.
Schließlich raffte ich mich dazu auf, mein Bett zu verlassen, und tappte hinaus auf den Flur. Tatjanas Zimmertür stand offen, aber sie war nicht da. Auf der Suche nach den anderen ging ich über den Flur und kam an die Treppe. Ich kämpfte mich die Stufen hinunter, die Hand auf dem Geländer. Oh Mann, ich fühlte mich wie eine uralte Frau mit einem Hüftschaden und wackeligen Knien. Aus einem Raum im Erdgeschoss hörte ich Stimmen, die mich näherlockten. Es war eins der Zimmer, die ich noch nie betreten hatte.
Was besprachen sie da? Ich glaubte, meinen Namen gehört zu haben.
Die Stimmen wurden lauter.
Ein fremder Mann. Und Onkel Vincent.
„Das waren sämtliche Filmdateien?“, fragte er gerade.
„Wir können sie uns gerne noch mal angucken“, sagte der Fremde.
Ich lugte um die Ecke. Jetzt konnte ich ihn sehen, einen hageren Mittvierziger mit Schnauzbart. Das ganze Zimmer war voller kleiner Bildschirme, auf denen Ausschnitte vom Grundstück und vom Inneren des Hauses erkennbar waren. Onkel Vincent und Tatjana standen hinter dem Besucher und starrten mit ihm zusammen auf einen Computer.
„Hier, das sind die Aufzeichnungen von der Kamera am Tor. Da, der junge Testa.“ Die Bilder rasten vorbei. „Und hier noch mal. Er ist zweimal aufs Gelände gekommen, hier hat er die Pizzen im Fahrradkorb, und vorgestern kam er ohne. Das blonde Mädchen lässt ihn rein und folgt ihm. Das sind die einzigen Male, dass er auf dem Anwesen war. Hier haben wir die Bilder von den Kameras auf der Mauer. Nichts. Die Kamera an der Hausecke. Da, man sieht einen Teil der Bäume. Welche Uhrzeit war es noch mal?“
„So gegen acht, neun Uhr“, sagte Tatjana. „Kann man nicht näher an den Pool heran? Oder an den Teich?“
„Ich wollte nicht, dass jemand beim Baden beobachtet wird“, sagte Onkel Vincent. „Die Kamera am Pool ist aus.“
„Hier ist das Mädchen mit der Brille. Sehen wir uns doch einfach alle Bilder mit ihr an. Aber ich kann Ihnen schon jetzt sagen, dass keine Menschenseele auf dem Grundstück ist, die da nicht hingehört. Sonst hätten wir schon längst eingegriffen, wir schlafen nämlich nicht, wissen Sie.“ Der Fremde klang beleidigt.
Vorsichtig trat ich näher an die Bildschirme heran. Ich sah mich selbst. Auf dem Baumstamm. Mein Mund bewegte sich, meine Hände gestikulierten. Dann wanderte ich zwischen den Bäumen umher. Erst ohne Regenschirm, dann mit. Ich hatte nicht gewusst, wie viele Kameras es auf dem Grundstück gab. Da, ich stand am Gewächshaus und lehnte mich gegen die Scheibe. Auf einem anderen Bild schien ich zu tanzen. Ich streckte die Hände aus und rief unhörbar. Trat näher, ging wieder zurück. Das musste der Abend sein, an dem ich mit Rico gestritten hatte.
Auf jedem einzelnen Bild war ich allein.
„Das kann nicht sein“, murmelte ich. „Das ist nicht möglich.“
Ich war immer allein gewesen. Am Pool, zwischen den Bäumen, am Teich, im Regen … immer bloß allein.
Tatjana drehte sich zu mir um. „Deswegen hast du ihn mir nicht vorgestellt“, sagte sie. „Du hast ihn erfunden. Du hast ihn dir bloß ausgedacht!“
„Alicia …“ Onkel Vincent streckte die Hände nach mir aus. „Alicia, so hör doch …“
Ich drehte mich um und floh.
Durch die geöffnete Terrassentür wankte ich in den Garten, denn da lauerte kein Mörder. Es gab überhaupt niemanden, der dort auf mich wartete. Ich hatte Rico nicht getroffen. Nicht mit ihm geredet und seinen dunklen Blick auf mir gespürt … nichts davon war je passiert. Nicht er war verrückt - ich war es. Die Frage, ob Rico und Luca verschiedene Personen waren, war falsch gestellt, denn es gab gar keinen Rico. Nur Luca Testa war echt. Alles andere war nichts als meine überspannte Phantasie.
„Nein!“, rief ich. „Nein! Das glaube ich nicht!“
Ich wusste, was ich gesehen hatte. Was ich gefühlt hatte. Ich hatte ihn doch sogar gezeichnet!
„Warte! Liss, so warte doch.“ Tatjana rannte hinter mir
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