Das Auge des Nachtfalters: Mystery-Roman (German Edition)
her. „Bleib endlich stehen.“
Sie war schneller als ich. Mit hängenden Armen stand ich am Pool und blickte ins hellblau schimmernde Wasser, in dem die unterirdischen Lampen strahlten.
„Liss, niemand ist böse auf dich. Ganz bestimmt nicht. Dein Onkel ist sogar froh, dass hier niemand herumschleicht, der dich umbringen will. Er sagt, das sind die alten Geschichten. Die Angst, die deine Eltern dir dein ganzes Leben lang eingeflüstert haben. Deshalb hast du deinem unsichtbaren Freund auch den Namen Rico gegeben. Herr Riebeck kennt einen guten Psychiater, der mit dir sprechen wird. Ich soll dir sagen, dass alles gut wird. Nur … nur klettere nie wieder auf Dächer, ja?“
Ich nickte betreten. „Kommt nicht wieder vor.“
„Wollen wir uns einen Film anschauen oder so? Du sollst dich doch noch schonen. Wir machen es uns auf dem Sofa bequem, ja? Dein Onkel hat jede Menge DVDs.“
„Such schon mal eine aus“, sagte ich. „Ich … ich brauche noch einen Moment.“
Sie nickte. So fürsorglich. So erwachsen. Als wäre sie zehn Jahre älter als ich. „Klar.“
Ich wartete, bis sie verschwunden war. Dann ging ich über den Rasen, auf die Bäume zu. Vielleicht beobachtete mich in diesem Moment jemand durch eine versteckte Kamera dabei, wie ich meinen müden, angeschlagenen Körper durch den Garten schleppte. Ich fühlte mich unendlich erschöpft.
Ich war also verrückt? Aber wie jeder echte Verrückte konnte ich nicht akzeptieren, dass ich halluziniert hatte.
Mangelnde Einsicht war ein untrügliches Zeichen, dass es wirklich schlimm um mich stand. Und trotzdem … Rico war real! Ich konnte nicht aufhören, ihn für eine echte Person zu halten, obwohl ich den Beweis vorhin mit eigenen Augen gesehen hatte. Einen untrüglichen, unanfechtbaren Beweis. Und dennoch - wie konnte Rico nicht existieren? Ich kannte ihn. Ich hatte mich in ihn verliebt. Ich sah ihn vor mir, auf dem Dach, wie er mich anlächelte, während seine schwarzen Augen ernst blieben und unergründlich … Wie konnte man sich so jemanden ausdenken? Wenn ich die Wahl gehabt hätte, wäre er mehr wie Luca gewesen. Er hätte alle meine Fragen beantwortet, mich geküsst und mir das Gefühl gegeben, schön zu sein. War mein Unterbewusstsein nicht mal in der Lage, einen Freund zu erfinden, der alle meine Wünsche erfüllte?
Es sei denn, ich hatte ihn mir gar nicht ausgedacht. Dass er auf den Videos nicht zu sehen war, lag nur daran, dass er … unsichtbar war.
Na toll. Ich hatte mich also in einen Unsichtbaren verliebt.
Meine Gedanken drehten sich im Kreis. Unsichtbar, wie dämlich war das denn? Ein unsichtbarer Geist. Ein … ein was? Meine Überlegungen kehrten wieder zu dem Wort zurück, hakten sich an ihm fest wie an einem störenden Fremdkörper.
Rico war so wirklich gewesen wie du und ich. Er war ganz gewiss kein Geist!
Lass los. Das ist der einzige Weg.
Willst du bei mir sein?, hatte er gefragt.
Ja, hatte ich geantwortet.
„Rico?“, fragte ich leise. „Rico, bist du da?“
Ja, hatte ich gesagt.
Wenn du erst bei mir bist, in meinem Garten, dann kann ich dich küssen …
Noch vor kurzem hätte ich einen solchen Gedanken als Irrsinn abgetan. Als pure Einbildung. Ich hatte darüber gelacht, dass meine Oma angeblich einen Geist gesehen haben wollte. Selbst wenn es Geister geben sollte, warum hatte gerade sie eine Verbindung zu ihnen? Und warum ausgerechnet ich? War das eine genetisch verankerte Eigenschaft, die man erben konnte? Das war doch absurd! Doch mittlerweile hatte ich dem Tod ins Auge geblickt. Und einem Jungen, der zugleich weinte und lachte und rief: Lass los! Gleich sind wir zusammen!
Was, wenn weder er noch ich verrückt waren? Wenn ich mich nicht getäuscht und er mich nie belogen hatte?
Ich hätte mich vor dieser Möglichkeit fürchten müssen, zurückzucken vor dem, was das in letzter Konsequenz bedeutete. Eigentlich hätte ich schreiend wegrennen müssen. Aber ich wusste noch zu gut, wie es sich anfühlte, zwischen Himmel und Erde festzustecken. Zwischen Leben und Tod. Nur mit den Faltern und mit der Angst und mit einer Stimme, die im Dunkeln ein Lied summte.
Von dem Wunsch angetrieben, endlich die Wahrheit herauszufinden, tastete ich mich durch die immer dunkler werdenden Schatten. Rico hatte versucht, mich zu töten, aber nun hatte ich keine Angst mehr. Das Einzige, was ich fühlte, war Mitleid. Nein, nicht das Einzige. Ich ließ es zu, dass mich erneut die Sehnsucht nach ihm von Kopf bis Fuß
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