Das Auge des Nachtfalters: Mystery-Roman (German Edition)
fiel, wusste ich, dass ich sterben würde, ein Gefühl, bitter und schwarz und schneidend, wie ein Blitz aus sengender Angst. Dann brach ich erneut durch Holz. Der Dachboden, ebenso morsch wie das Dach. Ich kam mit den Füßen auf, schlug durch die Bretter, ruderte mit den Armen und blieb ein zweites Mal hängen. Ich wollte schreien, mir die Seele aus dem Leib brüllen, aber ich war wie erstarrt. Ich hing da, klammerte mich an einen Balken und brauchte meine ganze Kraft, um mich festzuhalten.
Durch das Loch im Dach sah ich Rico, der sich über die Öffnung beugte. „Lass los“, flehte er, es ergab keinen Sinn. „Alicia, du musst loslassen.“
Unter mir ging es mindestens acht Meter in die Tiefe. Ich war beim Hereinkommen über harten Boden gegangen. Beton? Ziegelsteine? Ich konnte mich nicht erinnern, es spielte auch keine Rolle. Die Todesangst brachte mich dazu, mich nur noch stärker festzuhalten. War Tatjana nicht irgendwo in der Nähe? Würde sie mich hören? Aber ich konnte keinen einzigen Laut über die Lippen quälen. Mein ganzer Körper zitterte vor Anstrengung.
„Wehr dich nicht dagegen“, sagte Rico, um seine Lippen spielte ein rätselhaftes Lächeln. „Es geht nicht anders. Das ist der einzige Weg.“
In diesem Moment erst verstand ich es. Es war wie ein zweiter schwarzbitterer Blitz, der mich von Kopf bis Fuß durchfuhr und mein Herz zerriss. Fast hätte ich den Balken losgelassen, als mich die Erkenntnis traf. „Fahr zur Hölle!“, keuchte ich. Zu mehr war ich nicht in der Lage, dabei hätte ich ihm am liebsten meine Wut um die Ohren gehauen, sie auf ihn geschleudert wie ein ganzes Gewitter.
Tatjana!, schrie ich in Gedanken. Komm!
Wie lange hatte ich kein Bellen mehr gehört? Meine Freundin hatte es also aufgegeben, mich zu suchen. Winky war kein Spürhund, sondern ein albernes Bellkaninchen, das auf das nächste Leckerli wartete. Nein, ich war ganz auf mich gestellt. Wenn ich es schaffte, mich hochzuziehen … das Bein über die Kante zu schwingen … Aber als ich mich bewegte, rutschten meine Arme sofort tiefer. Splitter gruben sich in meine Haut, und mir traten Tränen in die Augen. Schmerz und Angst fluteten den Zorn weg, das fürchterliche Gefühl, verraten worden zu sein. Ich wollte noch nicht sterben. Nicht so! Oh Gott, nicht so!
Ich rutschte ab. Meine Hände verloren den Halt …
„Ja!“, rief Rico. „Komm!“
Ich schluchzte auf, als das Holz durch meine Hände glitt. Es gab einen Ruck, und ich hing zwischen Himmel und Erde. Unter meinen Achseln spannte etwas und schnürte mir fast die Luft ab. Der Umhängegurt meiner Tasche, die ich nicht einfach über der Schulter trug, sondern mir immer über den Kopf zog, musste an irgendetwas hängengeblieben sein. An einem Brett, einem Nagel vielleicht. Ich wagte nicht, mich umzudrehen, um nachzusehen.
„Oh Gott“, flüsterte ich. „Oh lieber Gott, hilf mir.“
„Alicia“, hörte ich Ricos Stimme. Er klang aufgeregt, nahezu enthusiastisch, er lachte und weinte zugleich. „Alicia, komm zu mir! Gleich bist du da, gleich! Dann sind wir für immer zusammen!“ Auf einmal hatte ich schreckliche Angst, er könnte zu mir kommen und mich schubsen. Oh bitte, bleib weg! Bleib bloß weg!
In diesem Moment vibrierte etwas über meinen Rippen. Ich bekam fast einen Herzinfarkt, dann begriff ich. Mein Handy. Tatjana! Das war bestimmt Tatjana! Da ich mich nicht mehr festhalten musste, hatte ich die Hände frei. Ich traute mich nicht, mich zu bewegen, doch womöglich war dies der einzige Weg, um Hilfe anzufordern. Schließlich wusste ich nicht, wie lange die Nähte der Tasche halten würden. Ich musste rangehen, ich hatte keine Wahl.
Millimeterweise tasteten meine Finger über den Stoff. Das Handy war in einer Außentasche, an die ich vielleicht sogar herankommen konnte. Mit bebenden Fingern zog ich es heraus.
Ein Ruck … Ich ächzte auf, aber mein Sicherheitsgurt hielt.
Ich drückte die Taste und flüsterte: „Tatjana?“
Rico spähte nicht mehr durchs Dach. Ich hatte keine Ahnung, wo er war. Auf keinen Fall durfte er mitbekommen, dass ich telefonierte.
„Hier ist Luca. Ähm. Alicia, bist du dran?“
Ich hielt den Atem an.
„Die Nummer stand auf der Serviette. Ich bin mir nicht sicher, wem von euch beiden sie gehört … Auf jeden Fall, ich würde gerne mit dem Mädchen in dem schwarzen Kleid sprechen.“
Ich schloss die Augen und lauschte. Wo war Rico? War er noch auf dem Dach? Hatte er mich angerufen? Was war das für ein
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