Das Auge des Nachtfalters: Mystery-Roman (German Edition)
Dielen, malte die unförmigen Schatten von Kisten und Säcken an die Wand.
Ein Schritt, noch einer.
Ich merkte, dass ich wieder weinte, aber ich konnte nichts dagegen machen. „Es ist alles morsch, pass bloß auf“, brachte ich heraus.
„Mir kann nichts passieren, wenn ich auf den tragenden Balken bleibe.“ Er tastete sich voran. Ich spürte jeden Schritt in meinem Körper, an den Vibrationen in meinem Nacken, wo meine Tasche an irgendetwas festhing. Als er das nächste Mal sprach, klang es so, als wäre er direkt hinter mir.
„Ich muss näher heran, um dich zu fassen zu kriegen, aber ich fürchte, dass dann noch mehr Bretter durchbrechen. Das müssen wir anders machen. Warte. Ich bin da. Dreh dich bloß nicht um.“
Er redete die ganze Zeit vor sich hin, während er sich wieder entfernte. Ich hörte, wie er in dem Gerümpel herumkramte.
Von unten kam Tatjanas panische Stimme. „Was ist? Warum holst du sie nicht endlich da weg? Was ist los?“
„Bleib unten!“, rief er zurück. „Scheiße, bleib bloß da! - Ruhig“, sagte er zu mir, als würde er zu einem hysterischen Pferd sprechen. Er sprach die ganze Zeit, als könnte ich sofort abstürzen, sobald er verstummte. „Ich schau nur, ob ich hier was finde … Warum gibt es denn kein Seil?“ Ich hörte ein Scharren, dann ein unterdrücktes Fluchen. „Wir müssen es ohne Seil versuchen. Tut mir leid.“
Ja, es tat mir auch leid. Alles.
„Ich komme zu dir. Beweg dich bloß nicht.“
Als wenn ich das vorgehabt hätte.
„Das ist, als würde ich jemanden aus einem zugefrorenen See retten“, meinte er, während er näherkroch. „Wenn ich mit einkrache, hilft das keinem. Ich muss auf diesem Balken hier bleiben. Pass auf, ich fasse dich jetzt an.“
Etwas berührte meine Schulter. Eine Hand, heiß und verschwitzt.
„Du musst mir helfen, sonst kann ich dich nicht über die Kante ziehen. Klar?“
Er würde fallen. Er würde nach mir greifen, und mein Gewicht würde ihn mit hinunterziehen.
„Oh Gott, Scheiße“, flüsterte er, auch er keuchte vor Angst und Anstrengung. „Jetzt stelle ich das andere Bein auf den nächsten Kehlbalken.“ Breitbeinig stand er beinahe über mir und beugte sich über mich.
Das schaffst du nicht, wollte ich sagen, aber ich sparte mir lieber den Atem. Vorsichtig wagte ich einen Blick in sein Gesicht, voller Furcht vor dem, was ich sehen würde. Trotz des spärlichen Lichts der Taschenlampe, die er auf die Bretter gelegt hatte, wirkten seine dunklen Augen klar und intensiv. Seine Stimme klang immer noch so, als würde er beruhigend zu einem Pferd sprechen. Oder redete er so mit aufgebrachten Pizzakunden?
Es war wirklich Luca. Ein winziger Stich der Erleichterung durchfuhr mich.
„Gib mir deine Hand!“, fuhr er mich an, gar nicht mehr geduldig. „Na los!“
„Ohgottogottogott!“, wimmerte Tatjana tief unter uns.
Ich reichte ihm meine Hand. Sein Griff war warm und fest. Überraschend fest.
„Jetzt!“
Er zog mich zu sich heran, langsam, als würde er im Fitnessstudio Gewichte heben. Meine Knie berührten ein weiteres Brett. Knirschend gab es unter mir nach, aber da hatte er mich schon an sich gezogen.
Er riss mich hoch. Einen schrecklichen Moment lang hielt der Taschengurt mich fest, hielt mich wie in einer tödlichen Umklammerung, dann gab er mich mit einem Knacken frei. Luca wankte rückwärts, trat daneben, Bretter zersplitterten unter uns. Tatjana kreischte noch lauter als ich. Luca taumelte, kämpfte um sein Gleichgewicht, aber er ließ mich nicht los, und plötzlich war alles dunkel.
Wir standen da, seine Arme um mich, schwankend wie ein Baum im Sturm, in völliger Finsternis. Ich hörte ihn heftig atmen.
„Fuck“, fluchte er. „Jetzt ist die Lampe weg.“
„Lebt ihr noch?“, schrie Tatjana.
„Keine Panik, wir stehen auf einem tragenden Balken“, sagte Luca dicht vor mir. „Jetzt müssen wir nur noch die Treppe erreichen. Immer auf dem Balken bleiben, okay?“
„Wo ist der denn? Ich kann nichts sehen!“
„Klammer dich nicht so fest, ich muss mich bücken, um zu fühlen, wo die Nägel sind.“
„Ich habe Angst“, flüsterte ich.
„Ich auch“, sagte er.
Er hielt meine Hand fest, während er in die Knie ging und tastete. „Hier. Hier geht der Balken weiter. Komm, Schritt für Schritt.“
Wir arbeiteten uns Zentimeter für Zentimeter voran.
„Wovor fürchtest du dich am meisten?“, fragte ich.
Vor der Einsamkeit, hatte Rico gesagt.
„Davor, dass ich sterbe, bevor ich richtig
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