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Das Auge des Nachtfalters: Mystery-Roman (German Edition)

Das Auge des Nachtfalters: Mystery-Roman (German Edition)

Titel: Das Auge des Nachtfalters: Mystery-Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lena Klassen
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anderen. Nur Onkel Vincent merkte nichts davon. Er hatte die Hemdsärmel hochgeschoben und lachte und erzählte. Seltsamerweise dachte ich kein einziges Mal: Wenn er doch der Mörder ist? Ich dachte nur: Wenn doch mein Vater auch so wäre.
    „Das macht er nur, damit wir ihn gern haben“, flüsterte Tatjana, als wir später die Treppe hochtorkelten, schlaftrunken, nicht etwa beschwipst. Onkel Vincent hatte Bier getrunken, aber uns nicht mal ein kleines Schlückchen angeboten. „Das ist alles geplant.“
    „Natürlich will er, dass wir ihn mögen“, sagte ich. „Aber so doll auch wieder nicht, sonst wäre er nicht so streng gewesen, was den Alkohol angeht. Und er hätte uns gewinnen lassen.“
    „Er hat uns gewinnen lassen.“
    „Schon, aber nicht jedes Mal.“
    Wir öffneten jeder unsere Zimmertür. Ich machte das Licht an und taumelte auf mein Bett zu. Da ertönte von nebenan ein gellender Schrei.
    Ich stieß heftig mit Tatjana zusammen, als ich in ihr Zimmer stürzen wollte und sie in meins. Sie keuchte, ihre Augen waren weit aufgerissen.
    „Was ist denn los?“, fragte ich. Der Aufprall hatte mich von den Socken gehauen, alle meine Prellungen begannen wieder zu schmerzen.
    „Da … da …“ Sie zeigte panisch zu ihrer Tür.
    In diesem Moment kamen Onkel Vincent und Sabine angerannt. „Ist jemandem was passiert?“
    Zu dritt stürmten wir in Tatjanas Zimmer, während sie draußen wimmerte und Winky an sich drückte, bis diese empört aufbellte. Ich hatte absolut keine Ahnung, was uns erwartete. Damit hätte ich jedenfalls nicht gerechnet: dass sich ein Raum so vollständig verwandeln konnte. Alles war graubraun verfärbt, und erst wenn man genau hinsah, erkannte man, dass die ungewöhnliche Beschichtung lebendig war. Der Boden, die Wände, die Decke, das Bett und die übrigen Möbel - alles war von Motten besetzt. Sie ließen nichts frei, keinen einzigen Quadratzentimeter. Eine Wolke kleiner Falter umschwirrte die Lampe, doch die übrigen rührten sich kaum. Nur hier und dort regte sich ein Flügel, tasteten kleine Beinchen. Sogar der offene Koffer, aus dem ihre Sachen herausquollen - Tatjana war alles andere als ordentlich -, war mit der lebendigen grauen Masse bedeckt.
    „Oh du meine Güte“, sagte Sabine. „Wir brauchen einen Kammerjäger.“
    „Wo soll ich denn jetzt schlafen?“, jammerte Tatjana.
    „Ich bezieh dir ein neues Bett. Das hier kann Inga morgen erledigen.“ Tatkräftig öffnete Sabine die Tür zu einem anderen Gästezimmer und kramte im Schrank herum. „Du kannst ruhig mithelfen“, sagte sie ungeduldig. Zu mir oder zu Tatjana, vielleicht auch zu uns beiden. Onkel Vincent stand immer noch fassungslos vor der Invasion der Motten.
    „Ich sollte diese Ruinen endlich abbrennen“, murmelte er. „Sonst hört das niemals auf.“

Tränen und Zorn

    „Hast du Winky gesehen? Ist sie bei dir?“
    Tatjana schubste mich fast aus dem Bett. Ich hatte mich in die Decke eingerollt, und wenn sie nur etwas fester daran gezogen hätte, wäre ich auf der anderen Seite von der Matratze geplumpst.
    „Hm?“, murmelte ich verschlafen. „Bist du etwa schon wach?“
    „Ich wollte mit Winky raus. Ich stehe immer früh auf. Okay, zu Hause macht das meine Mutter, aber hier bin ich bisher jeden Tag früh aufgestanden, du Schlafmütze. Du hast sie also nicht raus in den Garten gelassen?“
    „Nö“, knurrte ich widerwillig und rieb mir die Augen. Ein Stündchen mehr Schlaf hätte es ruhig sein können. „Hast du sie in deinem alten Zimmer gesucht?“
    „Könntest du …?“
    „Schon klar. Das sind doch nur Schmetterlinge, du Hase.“ Es gab viel Schlimmeres als winzige Füßchen auf der Haut.
    „Sie sind gruselig“, flüsterte Tatjana. „Er war es. Dein Geist.“
    „Bestimmt nicht“, behauptete ich, obwohl ich mir da natürlich nicht sicher sein konnte. Meine Freundin hatte gestern ganz schön schlimme Sachen gesagt, und Rico hatte nicht viele Möglichkeiten, sich zu wehren. „Ich schau mal nach Winky. Warte hier.“
    Ich kämpfte mich aus dem Bett und tappte, noch im Nachthemd, nach nebenan.
    Die Tür stand einen Spaltbreit offen. Vielleicht hatte ich auf ein Wunder gehofft. Dass in den letzten Stunden der Nacht der Albtraum verschwunden war und alles wieder so aussah, als sei nichts geschehen. Aber die Motten bedeckten immer noch jede Oberfläche. Das goldene Licht der Morgensonne prallte an den blinden, wie mit einer grauen Gardine verhüllten Fenstern ab.
    „Winky?“ Ich zog meinen Fuß

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