Das Auge des Nachtfalters: Mystery-Roman (German Edition)
mächtigen Schreibtisch stand ein wuchtiger Ledersessel auf Rollen.
„Setz dich“, befahl er und zeigte darauf.
„Äh, wo?“ Er konnte doch nicht meinen, dass ich mich an seinen Schreibtisch setzte? Ich hatte erwartet, dass er dort Platz nehmen würde und mich vor dem Tisch stehen ließ wie eine Schülerin vor dem Direktor.
„Dort.“ Seine Augen sprühten Funken. Gleich würde er losbrüllen, und ich duckte mich unwillkürlich. Aber seine Stimme war scharf, ohne lauter zu werden. „Setz dich da hin, Alicia, na los.“
Ich gehorchte, obwohl ich mich lieber irgendwo anders verkrochen hätte, vorzugsweise unter dem Tisch. Doch vermutlich würde er mich dann am Fuß packen und wieder hervorziehen. Also tat ich das Unvermeidliche und setzte mich. Das Leder des großen Sessels fühlte sich glatt und kühl an.
„Sieh hin.“ Onkel Vincent stand vor dem Tisch wie ein Bittsteller. „Schau dich um. Was siehst du?“
Ratlos ließ ich meinen Blick über die Tischplatte schweifen. Ein glänzender Stein. Ein Telefon. Ein kleiner Krug, aus dem Stifte ragten. Ein Schreibblock. Ein Kalender.
„Ich weiß nicht, was …“
Und da sah ich, was er meinte. Auf Onkel Vincents Schreibtisch stand ein einziges Bild, ein gerahmtes Foto, und darauf lächelte mir die tote Familie Meyrink entgegen: Paul und Angelina und die Zwillinge.
„Glaubst du auch, dass ich ihre Leichen im Garten versteckt habe?“, fragte mich Onkel Vincent mit rauer Stimme. „Glaubst du, dass ich diese Kinder entführt und umgebracht habe, um ihr Erbe an mich zu reißen? Glaubst du, ich hätte diesen blöden kleinen Hund im Pool ertränkt, damit er die Leichen nicht findet?“
Ich saß da mit offenem Mund und schüttelte den Kopf.
„Deine Freundin glaubt das aber. Wie kommt sie wohl darauf, hm? Was hast du ihr erzählt, Alicia? Dass ich meine Freunde ermordet habe, damit mir die ganze Firma gehört statt die halbe?“
„Nein“, stammelte ich, „nein, sie hat … sie dachte …“ Oh Gott, wie konnte ich ihm denn sagen, woher dieser Verdacht rührte? Wie konnte ich ihm von Rico erzählen, der seit dem Zeitpunkt seines Todes in diesem Garten festsaß?
„Paul war mein bester Freund“, sagte er. „Wir waren Geschäftspartner, aber in erster Linie Freunde. Nur deshalb hat er sich überhaupt auf meine Ideen eingelassen. Wenn man sieht, was daraus geworden ist, mag man kaum glauben, wie alles angefangen hat, mit einem einzigen kleinen Laden voller Holzkisten. Ich habe seine beiden Kinder geliebt. Ich war ihr Pate. Ich habe sogar verhindert, dass sie für tot erklärt wurden. Diese Firma heißt immer noch Riebeck und Meyrink! Willst du es sehen? Soll ich dir die Papiere zeigen, die beweisen, dass ich ihren Teil des Vermögens verwalte, damit sie, wenn sie jemals zurückkommen sollten, alles geordnet vorfinden?“ Er wandte das Gesicht ab und wischte sich über die Augen.
„Ich will, dass du abreist, Alicia“, sagte er, ohne mich anzusehen. „Fahr mit Marie-Sophie nach Hause. Am besten noch heute. Ich brauche hier niemanden, der mich für einen Mörder hält.“
Er ließ mich auf dem mächtigen Drehstuhl sitzen und ging einfach aus dem Zimmer. Und ich saß da und schaute auf das Foto und heulte wie ein Schlosshund.
An diesem strahlenden Sommermorgen stieg die Sonne über das Dach und tauchte alles in goldenen Glanz. Heute wäre mir ein trüber Regentag tausendmal lieber gewesen.
Am Teich traf ich Thomas, der eine kleine Grube aushob. „Möchte deine Freundin dabei sein?“, fragte er. „Es war doch ihr Hund.“
„Können Sie noch ein bisschen warten? Ich muss sie erst fragen.“
Er nickte. „Ich hab hier aber keine Kühlkammer. Eigentlich würde ich das Hündchen gerne gleich hier und heute unter die Erde bringen.“
„Ist das eigentlich erlaubt?“
Er zuckte bloß die Achseln. Ihn interessierte das nicht. Und mich, wenn ich ehrlich war, auch nicht. Ich hatte wirklich Schlimmeres zu bedenken als eine illegale Haustier-Beerdigung.
„Wo ist Winky jetzt?“ Später konnte ich Tatjana vielleicht dazu überreden, mit in den Garten zu kommen und Abschied zu nehmen. Aber im Moment wollte ich am liebsten allein sein. Ich musste mir darüber klar werden, was ich denken und fühlen sollte.
„Im Gärtnerschuppen“, sagte Thomas. „Mit einem Müllsack abgedeckt. Geh ruhig rein, wenn du magst.“
Die Gartengeräte waren in einem leicht versetzten Gebäude hinter der Garage untergebracht. Andi, der jüngere Gärtner, hatte den Aufsitzmäher
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