Das Auge des Nachtfalters: Mystery-Roman (German Edition)
wieder zurück. „Nein, hier ist sie nicht.“
„Dann suche ich sie draußen.“ Tatjana klang geradezu erleichtert.
Ich hatte eigentlich vorgehabt, wieder ins Bett zu gehen, aber jetzt war ich hellwach. Durch meinen Kopf schwirrten die Gedanken. Und ein Gefühl stieg in mir hoch wie ein Sonnenaufgang: Rico. Heute würde ich mich wieder mit Rico treffen.
Rasch zog ich mich an, machte eine kurze Katzenwäsche und kämmte mir die Haare. Dann sprang ich gut gelaunt die Treppe hinunter, wo mir schon Inga und zwei jüngere Frauen entgegenkamen. Wahrscheinlich hatten sie vorgehabt, die Bescherung zu beseitigen, bevor wir aufwachten.
„Die Motten?“
„In Tatjanas Zimmer“, sagte ich hilfsbereit. „Aber ich fürchte, Insektenspray wird da nicht viel helfen. Vielleicht machen Sie einfach das Fenster auf und scheuchen die Biester raus. Meine Freundin wird sich echt freuen, wenn sie zurückkommt und der Gruselfaktor beseitigt ist.“
Nur, wo war sie? „Tatjana?“
Keine Antwort. Bestimmt war sie mit dem Hund draußen in Onkel Vincents heiligem Garten. Hoffentlich machte Winky kein Häufchen auf einem der Gehwege oder gar mitten auf dem gepflegten Rasen.
Jemand hatte die Terrassentür offenstehen lassen. Frische Morgenluft wehte herein. Heute würde wieder einer dieser heißen Tage werden, ein richtiger Sommertag, und der Garten würde duften und zum Baden einladen. Vielleicht sollte ich ins Dorf fahren, um einen neuen Skizzenblock aufzutreiben, denn der alte war schmutzig, zerrissen und zerknickt. Außerdem erinnerte er mich an den Abend auf dem Dach.
„Tatjana?“ Ich horchte. „Hallo, Tatjana?“
In der Küche werkelte bereits Romina herum. „Guten Morgen, Fräulein Riebeck.“
Ich korrigierte sie nicht. Für die Menschen hier war ich nun mal eine Riebeck, keine Vanderen.
Der Name eines Mörders, sagte eine innere Stimme. Willst du wirklich den Namen eines Mörders tragen? Nicht einmal dein Vater wollte so heißen, gibt dir das nicht zu denken? Nein, widersprach ich heftig. Nein, ganz sicher nicht, das hatte einen anderen Grund!
„Liss, ich kann Winky nicht finden!“ Tatjana stürmte völlig aufgelöst herein und unterbrach mein lautloses Selbstgespräch. „Wo ist sie bloß hin? Sie weicht doch sonst nicht von meiner Seite.“
„Ich helfe dir suchen.“ Gut, das würde mich von der Frage ablenken, inwieweit Onkel Vincent in diese Geschichte verwickelt war. „Vielleicht ist sie über den Rasen gelaufen, zu den Bäumen. Ich kann Rico fragen, ob er sie gesehen hat.“
Ich hatte allerdings keine Ahnung, ob ich ihn um diese Zeit treffen würde. Es war noch keine sieben Uhr. Geister schliefen nicht, oder? Darüber hatte ich mir noch überhaupt keine Gedanken gemacht.
„In den Wald?“, fragte Tatjana skeptisch.
„Keine Panik, die finden wir schon.“ Ich gab mich zuversichtlich. „Innerhalb der Einzäunung kann sie wenigstens nicht vors Auto laufen.“
„Das Tor!“ Panik stand in ihren Augen. „Wenn sie nun durch die Gitterstäbe raus ist? Auf die Straße?“
Sie rannte los, bevor ich sie aufhalten konnte, und ich machte mich auf die Suche nach Rico.
Im Schatten hinter der Wildrosenhecke war es noch recht kühl. Die Bäume standen still, als hüteten sie ein Geheimnis. Das hellblaue Rechteck des Pools wirkte verwunschen, wie ein aus einem Gletscher herausgeschnittener Quader aus blauem Eis. Rico war nicht da.
Ich starrte ins Wasser. Da war irgendetwas Verschwommenes, das ich nicht richtig erkennen konnte. Ich nahm meine Brille ab, putzte die Gläser mit dem Saum meines T-Shirts und blickte noch mal hindurch.
Im Wasser trieb tatsächlich etwas. Ein kleiner, hellbrauner Körper, der sich nicht bewegte.
Tatjana schrie und heulte wie eine Alarmsirene, von ihren nassen Kleidern spritzte das Wasser in alle Richtungen.
„Was ist denn jetzt schon wieder passiert?“ Die Erwachsenen stürmten in den Garten. Zuerst Romina, die den kürzesten Weg hatte. Dann Onkel Vincent. Sabine. Von irgendwoher erschienen die beiden Gärtner. Aus einem der oberen Fenster spähten Inga und ihre Helferinnen.
„Was ist hier los?“, wiederholte Onkel Vincent seine Frage. In seiner Stimme lag Autorität, die Macht, alle Stürme zu besänftigen, alle Wogen zu glätten.
Aber Tatjana war außer sich. „Sie waren das!“ Sie ging auf ihn los, ihr totes Hündchen in den Armen. „Sie haben Winky umgebracht!“
„Hehehe, ganz langsam.“ Sabine versuchte, meine Freundin von ihrem Boss zu trennen. „Was sollen
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