Das Auge des Nachtfalters: Mystery-Roman (German Edition)
denn diese Anschuldigungen!“
Thomas, der ältere Gärtner, wollte Tatjana das tote Tier abnehmen, doch sie klammerte sich daran.
„Sie gemeiner Mörder!“, schrie sie Onkel Vincent an. „Ich weiß alles über Sie! Sie wollten ja bloß verhindern, dass Winky die Leiche findet. Deshalb hassen Sie Hunde!“
„Was für eine Leiche?“, fragte mein Onkel erschrocken. „Wovon sprichst du überhaupt?“
„Ricos Leiche!“, kreischte Tatjana. „Sie ist irgendwo hier auf dem Grundstück! Wir wissen alles!“
Onkel Vincent wurde blass. Als hätte er einen Geist gesehen, wich er vor ihr zurück. „Du weißt nicht, wovon du sprichst“, sagte er gepresst. „Alicia, bring sie hier weg.“
Es war ein Befehl.
Ich fasste Tatjana am Arm und zog sie mit mir fort. Sabine scheuchte die schaulustigen Angestellten an die Arbeit. Thomas folgte uns und streckte die Hände nach dem Hund aus. „Gib ihn mir“, sagte er mit beruhigender Stimme.
„Es ist eine Sie“, wimmerte Tatjana. „Meine Winky. Meine liebe, kleine Winky.“
„Ja“, sagte der Gärtner sanft. „Ich werde eine Kiste für sie bauen. Und wir werden ihr Blumen aus dem Garten ins Grab legen. Bitte. Ich sorge dafür.“
„Gib sie ihm“, sagte ich. „Tatjana, bitte.“
Sie krallte die Hände um Winkys Leichnam, aber schließlich seufzte sie und gab Thomas das schlaffe Bündel aus nassem Fell. Eine Bewegung zwischen den Bäumen lenkte mich ab. Dort stand er, eine hohe Gestalt in einem dunklen Anzug. Blass, das schwarze Haar verstrubbelt, als wäre er eben erst erwacht. Wir sahen uns an, und in seinem weißen Gesicht zuckte kein Muskel. Wie eine Flamme brannte in seinen Augen derselbe Schmerz, der auch in mir war, der auf uns alle übergriff. Den jetzt auch Tatjana in sich trug. Ich führte sie nach drinnen, hoch zu ihrem Zimmer, und sie ging neben mir her, benommen wie eine Schlafwandlerin.
Als ich sie auf ihrer Bettkante platziert hatte wie eine lebensgroße Puppe, wusste ich nicht mehr weiter. Zum Glück steckte Sabine den Kopf durch die Tür, erkannte, wie schlecht es mit uns beiden aussah, und kam herein.
„Hier. Besser, du nimmst die.“ Sie drückte Tatjana eine Tablette in die Hand und ein Glas Wasser. „Zur Beruhigung.“
Sabine wartete, bis meine Freundin brav die Tablette geschluckt hatte, und wandte sich dann an mich. „Brauchst du auch eine?“
„Nein“, antwortete ich. Dabei hatte ich immer noch das Bild vor Augen: Winkys lebloser Körper, der im hellblauen, glitzernden Wasser trieb. Mir war schlecht vor Entsetzen. Aber wie hätte eine Tablette mich vor dem Schrecken retten können?
Tatjana schluchzte ins Kissen. „Ich will nach Hause.“
„Gleich geht es dir besser“, versicherte Sabine.
„Nein, ihr versteht das nicht. Ich will sofort nach Hause! Jetzt!“
Wie lange dauerte es wohl, bis die Wirkung des Medikaments einsetzte? Ich hoffte, es geschah bald, denn Tatjana wurde richtiggehend hysterisch. Am schlimmsten wurde es, als Onkel Vincent ins Zimmer kam.
„Bleiben Sie weg von mir!“, brüllte sie ihn an. „Sie haben Winky umgebracht! Das waren Sie! Ich will sofort nach Hause, in diesem Irrenhaus bleibe ich keinen Tag länger!“
Onkel Vincent blieb bemerkenswert gefasst. „Das halte ich auch für das Beste“, sagte er ruhig. „Sabine, gib bitte Marie-Sophies Eltern Bescheid. Sollen die entscheiden, ob sie ihre Tochter abholen kommen oder ob wir sie in den Zug setzen. - Alicia, wir müssen reden.“
Ich wäre lieber bei Tatjana geblieben, vielleicht konnte ich sie doch irgendwie beruhigen. Aber Onkel Vincent sah mich streng an, so ernst und kalt, dass mir ein Schauer über den Rücken lief. Mir blieb nichts anderes übrig, als zu gehorchen. Ich folgte ihm hinaus in den Flur.
Er ging vor mir her, ohne sich nach mir umzudrehen. Selbst sein Rücken strahlte Kälte aus. Während ich ihm nachtrottete, fühlte ich mich immer kleiner und verzweifelter. Er war wütend, das hätte ein Blinder bemerkt, so schrecklich wütend, dass … ja, was? Dass er mich schlagen wollte?
Endlich öffnete er eine Tür, und zum ersten Mal betrat ich Onkel Vincents Arbeitszimmer. Regale reichten bis zur Decke. Hier waren gewiss tausende von Büchern versammelt, die einem Bücherwurm wie mir das Herz höher schlagen ließen, obwohl ich hier wahrscheinlich vergebens nach albernen Mädchenbüchern gesucht hätte. Klassiker in Ledereinbänden mit Goldschnitt standen dicht an dicht. Ein antik aussehender Globus zog die Blicke auf sich. Vor dem
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