Das Auge des Nachtfalters: Mystery-Roman (German Edition)
alles sich so entwickeln würde, wie sie wollte. Wenn man Model werden wollte, wurde man eins. Ein Verbrechen aufklären, das Jahre zurück lag? Nichts leichter als das. Durch den Beruf ihres Vaters, des Schönheitschirurgen, war sie es gewöhnt, dass man aus hässlich hübsch machen konnte, dass es kein Problem gab, das man nicht aus der Welt schaffen konnte. Man musste die Sache nur in die Hand nehmen.
„Mit der Unterstützung eines Geists kann es ja wohl kaum schiefgehen.“
Manchmal beneidete ich sie um ihre optimistische Einstellung.
Luca verbrachte den ganzen Nachmittag am Pool. Er lag herum und sah dabei unverschämt gut aus. Tatjana hatte ihre Liege neben seine gerückt und redete ohne Punkt und Komma auf ihn ein, aber da es nicht um so sensible Dinge wie seine wahre Herkunft ging, ging ich nicht dazwischen. Ich schwamm ein paar Bahnen und ertappte ihn ein paar Mal dabei, wie er mich beobachtete, obwohl er sich gleichzeitig angeregt mit Tatjana unterhielt. Vielleicht stimmte es ja wirklich und er kam nur meinetwegen her.
Ein komisches Gefühl.
Ich kletterte aus dem Becken und wickelte mich rasch in mein Handtuch. Dann eilte ich hoch in mein Zimmer, um mich umzuziehen. Von meinem Fenster aus konnte ich den Pool nicht sehen, aber als ich es öffnete, hörte ich Tatjanas Lachen herüberschallen. Mussten die beiden wirklich immer solchen Lärm machen? Ich sehnte mich nach Rico, nach seiner ruhigen Art. Niemand konnte mir so zuhören wie er. Niemand war mir je so nah gewesen wie er.
Unwillkürlich sah ich zum roten Dach der Lagerhalle hinüber. Der Turm stach in den Himmel. Die Wipfel der Bäume bewegten sich in einem leichten Wind, den man unten am Pool nicht gespürt hatte. Winky bellte.
Mir stockte der Atem, mein Herz schlug schneller.
Ich jagte die Treppe hinunter, über die Terrasse, zurück zum Pool. Die zwei schienen mich nicht vermisst zu haben, und sie waren auch zu blind, um den reglosen Schatten zwischen den Bäumen zu bemerken. Nur Winky wusste Bescheid und sprang in wildem Zorn um den unsichtbaren Besucher herum.
„Du solltest sie reinnehmen, bevor du Ärger bekommst“, sagte ich zu Tatjana, bevor ich vor Rico hintrat.
Sein schönes, düsteres Gesicht hatte wieder denselben verschlossenen Ausdruck wie bei unserer ersten Begegnung.
„Ich kann ihn nicht ausstehen“, sagte er grimmig.
Natürlich wusste ich sofort, wen er meinte. „Ich dachte, du würdest dich vielleicht freuen, deinen Bruder zu sehen.“
„Ich habe ihn gesehen, als er dich vom Dach geholt hat.“
Wir hatten kein einziges Mal über Luca geredet. Warum hatte ich mich nie getraut, dieses Thema anzuschneiden? Jetzt konnten wir der Tatsache, dass sein Bruder lebte, nicht mehr ausweichen. Wir beide nicht.
„Du hast ihn angerufen“, beschwerte Rico sich trotzig. „Und er ist sofort zu deiner Rettung herbeigeeilt. Aber du hattest es nicht für nötig gehalten, mir zu erzählen, dass du ihn kennst.“
„Tut mir leid“, sagte ich. „Ich kenne ihn auch noch nicht lange. Er hat uns die Pizza gebracht, und seitdem … Nun, es ist etwas kompliziert.“ Ich zögerte, ihm diese Frage zu stellen. „Wusstest du von ihm? Dass er im Dorf wohnt, so nah bei dir?“
„Nein“, sagte er leise.
„Aber die Motten wissen es doch, oder? Sie können überall hinfliegen. Sind sie nicht deine Spione?“
Er zögerte. „Ich habe es … geahnt. Dass da etwas ist, das sie nervös macht.“ Rico konnte die Augen nicht von seinem Bruder abwenden. „Hast du es ihm erzählt? Von mir?“
„Er würde mir nicht glauben. Noch nicht. Aber wenn wir … wenn du uns zeigen würdest, wo … wo dein Körper ist … Man kann die Verwandtschaft feststellen lassen.“
„Wird dann alles aufgeklärt?“ Seine Stimme klang bitter, ohne jede Hoffnung. „Wenn Tatjana recht hat, werde ich danach … gehen.“ Er lachte rau. „Wohin auch immer. Wohin gehen ermordete Kinder? In den Himmel?“
„Bestimmt“, sagte ich.
„Und die Geschichte auf dem Dach? Ich schätze, damit habe ich den Kinderbonus verwirkt.“
„Aber ich verzeihe dir. Das muss doch auch zählen.“ Ich zwang mich auszusprechen, was mir wirklich auf dem Herzen lag: „Ich will nicht, dass du verschwindest, Rico.“
„Dann gibt es nie Gerechtigkeit.“ Er lachte wieder, und wieder war es das Lachen eines Verlorenen. „Also worauf möchte ich verzichten? Auf dich und dieses seltsame halbe Dasein? Will ich in einer Welt bleiben, in der mein Mörder frei herumläuft? Oder bringen wir
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