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Das Auge von Tibet

Das Auge von Tibet

Titel: Das Auge von Tibet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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Sohn. Malik starrte sie ungläubig an und ließ den Baseball fallen. Die Frau trat vor, nahm den Ball und warf ihn Batu zu, der ihn auffing und lachte. Es war eine ganz schlichte Sache, ein kleines Geräusch der Freude, aber es schien auf irgendeine Weise über die gesamte Lichtung zu hallen und die Aufmerksamkeit jedes einzelnen zu erregen. Weil, so begriff Shan, es sich um den Laut eines Kindes handelte, nicht um den Schrei einer gequälten Seele, die vor Mördern geflohen war.
    Über die Lichtung senkte sich Schweigen. Alle Augen richteten sich auf den Clanältesten, der nun ernst jedem der Waisenjungen ins Gesicht sah. »Das wird uns eine Menge neuer Sättel kosten«, verkündete Akzu schließlich, und seine Frau lief zu ihm und schloß ihn in die Arme.
    Zwei Stunden nach Sonnenuntergang, als fast alle im Lager nach dem Essen in einen tiefen Schlummer sanken, kehrte Shan zu dem Felsvorsprung zurück. Deacon saß allein dort im Schein des Vollmonds. Nicht ganz allein, denn er hatte seine Sänger im Halbkreis vor sich aufgestellt. Shan ging nicht sofort zu ihm, sondern machte zunächst kehrt, sprach bei der Hütte mit dem Yakde Lama und trat dann erst auf den Vorsprung hinaus.
    Der Amerikaner sagte nichts, sondern wich nur ein Stück zur Seite, damit Shan sich neben ihn setzen konnte.
    Der Mond leuchtete dermaßen hell, daß die meilenweit entfernte Wüste regelrecht zu erglühen schien. Ein oder zwei der Grillen gaben vereinzelte Laute von sich, als wären sie eingeschüchtert.
    »Da war auch ein Kompaß«, sagte Shan leise. »Ein schwarzer Metallkompaß.« Er griff in seine Tasche und gab ihn dem Amerikaner.
    Deacon blieb so lange stumm, daß Shan sich zu fragen begann, ob der Amerikaner ihn überhaupt gehört hatte.
    »Es war mein Geschenk an Micah«, sagte Deacon dann. »Er war mutig und selbstbewußt, aber als er zum erstenmal mit der zheli aufbrechen sollte, fragte er mich, wo wir sein würden. Ich erklärte es ihm und sagte, wir würden dort immer auf ihn warten.« Deacons Stimme erstarb, und es dauerte lange, bis er fortfuhr. »Nimm meinen Kompaß, sagte ich, und dann habe ich ihm auf einer Karte gezeigt, wo der Sandberg liegt. Damit er wüßte, in welche Richtung er sich wenden mußte, falls er je mit uns reden oder uns eine gute Nacht wünschen wollte.«
    Shan schloß die Augen und kämpfte gegen das Bild eines verängstigten Jungen an, der Ko mit Baseballschläger und Messer auf sich zukommen sah und den Kompaß hervorholte, um herauszufinden, wo seine Eltern waren und wie es ihm gelingen könnte, sich zu retten.
    Dann schwiegen sie wieder lange. Das Zirpen der Grillen nahm ein wenig zu. »Eisenbein will nicht«, sagte Deacon geistesabwesend. »Seit ich ihn gefangen habe, ist er ziemlich schweigsam.« Der Mond stieg höher und leuchtete noch heller. Von irgendwo ertönte der Ruf einer Eule. Und dann brach hinter ihnen ein Zweig. Der Yakde Lama trat auf den Felsvorsprung und schaute mit traurigem, schüchternem Lächeln zu ihnen hinab.
    »Ich möchte, daß Sie jemanden kennenlernen«, sagte Shan.
    »Ich weiß, wer Khitai ist«, erwiderte Deacon mit heiserer Stimme.
    Der Junge kam einen Schritt näher.
    »Ich möchte, daß Sie jemanden kennenlernen«, wiederholte Shan.
    Der Junge kam noch einen Schritt näher.
    »Sie haben gesagt, Sie würden ihm ein Fahrrad kaufen«, sagte Shan.
    Der Amerikaner gab einen erstickten Laut von sich, und dann ließ ein Schluchzen seine breiten Schultern erzittern. Er streckte die Arme aus, der Junge fiel ihm um den Hals, und Deacon konnte endlich weinen. Er weinte mit tiefen, stöhnenden Schluchzern, und Khitai klammerte sich an ihn und weinte ebenfalls. Bis sie sich am Ende wieder beruhigten. Denn alle Grillen sangen.
    Jemand berührte Shan sanft an der Schulter und weckte ihn. Die Sonne ging gerade auf. »Stimmt es«, fragte Gendun beinahe flüsternd, »daß der Yakde immer noch nach Amerika gehen möchte?« Shan nickte nur, und Gendun erhob sich und kehrte zu einer kleinen Gruppe zurück, die bei den Bäumen saß. Shan schob seine Decke beiseite und stand auf. Im Lager war noch alles ruhig, abgesehen von zwei Maos am Feuer, wo sie die ganze Nacht Wache gehalten hatten. Shan ging zu den Bäumen. Gendun, Lokesh und ein alter, fast kahlköpfiger Tibeter lauschten Jowa, der mit dem Finger eine Wegskizze auf den Boden malte und erklärte, wie man von Senge Drak nach Rabennest gelangen konnte. Shan warf einen zweiten Blick auf den Fremden und erstarrte.
    Es war der Wasserhüter.

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