Das Babylon-Virus
hätte man an dieser Stelle einen pompösen Altar erwartet, dachte Amadeo. Hier aber bestand er nur aus einem schlichten Holztisch. Doch wie hätte man den Herrn der Heerscharen großartiger verehren können als in der Musik, die an diesem Ort entstanden war?
» Behold that stony arc «, murmelte Styx noch einmal, hielt dann zwei Schritte vor der Orgel inne, auf ein verziertes, niedriges Metallgitter gestützt, das den Altarbereich vom Gemeinderaum abgrenzte. »Irgendwo hier muss es geben Tore von Metall. - Vom Belshazzar wiederum: Yet still the brazen gates «, summte er zu derselben angedeuteten Melodie. » Yet still the brazen gates . - Damn! «
Aus dem Augenwinkel sah Amadeo, wie ihre Führerin kurz zusammenzuckte.
Langsam drehte der Bassist den Kopf nach links, reckte den Hals. »Wo führt diese Tür hin?«, fragte er auf Englisch, an die alte Dame gewandt.
Sie biss sich auf die Lippen. »Eigentlich darf ich dort nur zu den Führungen öffnen«, sagte sie ausweichend. »Aber …« Ihr Blick glitt zu Duarte. »Mit Sicherheit würde er sich freuen, wenn Sie ein Gebet für ihn sprechen!«
Der commandante zögerte einen Moment, nickte dann aber würdevoll. Vielleicht hatte er denselben Gedanken gehabt wie Amadeo: Als dieses Kirchlein entstanden war, war es kaum ein paar Jahrzehnte her gewesen, dass man sich auf den Britischen Inseln um den rechten Glauben noch den Schädel eingeschlagen hatte. Wessen Grab die alte Dame auch immer im Hinterstübchen hatte: Ob er über Fürbitten von der Konkurrenz so erbaut sein würde, wollte Amadeo bezweifeln.
Ihre Führerin fingerte bereits an ihrem Schlüsselbund. Seinen Dimensionen nach hätte es als Türöffner für sämtliche Kirchenräume im Umkreis von mehreren Meilen dienen können.
Jetzt hatte auch Amadeo die Stelle vor dem Altartisch erreicht, eben rechtzeitig, um zu sehen, wie die kleine Frau eine niedrige Tür öffnete, die auf den ersten Blick eher unscheinbar wirkte. Ein schlichter Raum kam zum Vorschein - ein Arbeitsraum, wenn man es so nennen wollte, offenbar die Sakristei des Gotteshauses. Amadeos Blick glitt nur kurz über ein Regal mit unterschiedlichen Gerätschaften und Aktenordnern und blieb dann automatisch an einem Durchgang hängen, der im rechten Winkel weiterführte. Wie erstarrt war der Bassist dort stehengeblieben.
» Yet still the brazen gates «, murmelte er noch einmal.
Beinahe ehrfürchtig berührten seine Finger ein verschnörkeltes Metallgitter. Es ähnelte den Schranken rund um den Altar, lief hier aber an den Innenseiten des Durchgangs entlang und fasste Styx’ Kehrseite jetzt beinahe wie ein Bilderrahmen ein. Die Lücke innerhalb der geschmiedeten Stäbe konnte durch eine Tür geschlossen werden, die im Augenblick aber offen stand.
Mit zwei Schritten war Amadeo an der Seite des Bassisten, und was er sah, verschlug auch ihm die Sprache.
Amadeo Fanelli hatte bereits barocke Grabmäler gesehen. Rom war schließlich voll davon, doch in Rom rechnete man auch damit, dass einen hinter der nächsten Straßenecke unvermittelt eine Masse marmorner Manierismen ansprang, und in den Kirchen sowieso. Aber hier …
Auf einem etwa schulterhohen Podest stand die überlebensgroße Marmorskulptur eines Mannes in historisierender Rüstung, aber mit der typischen Allongeperücke aus den bizarrsten Jahrzehnten des Rokoko. Hohe Säulen zu beiden Seiten der Figur grenzten sie zu zwei knienden Frauengestalten hin ab. Das mussten Frau und Tochter des Toten sein, oder aber, wahrscheinlicher, zwei Frauen, mit denen er verheiratet gewesen war - nacheinander selbstverständlich. Wer der Mann war, daran hatte Amadeo keine Sekunde einen Zweifel. Auf den ersten Blick ließ sich ja nicht einmal sagen, ob sich die beiden Frauen in ihrer anbetenden Haltung an ihren Schöpfer wandten oder aber an den gemeinsamen Angetrauten, der sich selbst im Tode noch alle Mühe zu geben schien, ein eindrucksvolles Bild abzugeben:
Das also war der Duke of Chandos, dem sie - und Händel - letztendlich all die Spuren verdankten, denen sie den ganzen Nachmittag nachgelaufen waren: das verschwundene Palais, die verschwundenen Gräben und Bassins im Park, die verschwundene Gladiatorenfigur und nun schließlich
die Kirche mitsamt dem Grabmal des Verstorbenen. Der Endpunkt der musikalischen Fährte, der wie durch ein Wunder noch vorhanden war.
Styx hob die Augen in Richtung Decke, und Amadeo folgte ihm automatisch. Wieder eine Malerei, wieder als Trompe-l’œil gestaltet. Man hätte
Weitere Kostenlose Bücher