Das Babylon-Virus
Der zweite Schwerpunkt von Händels Wirken hier bei uns, neben der Tätigkeit als Hofkomponist. - Bitte, Sie müssen sich die Kirche einfach ansehen!« Verschwörerisch zwinkerte sie dem commandante zu, fügte fast flüsternd hinzu: »Ich habe die Schlüssel!«
Fragend ging Amadeos Blick zu Styx. »Wollen wir?«
Nachdenklich betrachtete der Bassist den Kirchenbau, den gedrungenen, zinnengekrönten Turm, der auf den Park blickte. Den Turm hätte sich Amadeo auch in einem der Schlösser Heinrichs VIII. vorstellen können, während der Rest des Gebäudes vergleichsweise neueren Datums war: das Werk des Duke mit seiner Vorliebe für barocken Glanz und Gloria, zu Händels Zeit errichtet.
»Ich denke, wir sollten das tun.« Styx nickte.
Amadeo warf einen letzten Blick auf die Parkanlagen, auf die sich der Abend senkte. Sie waren nun beinahe menschenleer. Ein letztes Grüppchen von Spaziergängern eilte den Weg entlang, den sie selbst eben gekommen waren. Es wird dunkel, dachte Amadeo, und in der Ferne hörte er die ersten Sirenen. Die Menschen im friedlichen Edgware mochten noch nicht ahnen, was ihnen bevorstand, wenn das Tageslicht aus den Straßen wich, heute Nacht und in den kommenden Nächten. Amadeo dagegen wusste es, und er allein konnte verhindern, dass es noch viel, viel schlimmer kam.
»Wir haben keine Zeit mehr«, murmelte er.
Eilig folgte er dem commandante und der aufgeregt vor sich hin schnatternden und schnäuzenden Führerin, Styx an seiner Seite. Spazierweg und Park endeten an einer Straße, doch die kleine Dame wandte sich auf dem Gehsteig sofort nach links, an der Friedhofsmauer entlang bis zu einer von einem kleinen Wetterdach geschützten Pforte.
»Kommen Sie, meine Lieben, kommen Sie!« Strahlend winkte sie ihre Begleiter hindurch, griff ein einziges Mal kurz nach einem neuen Taschentuch aus dem Vorrat des commandante .
Während sie mit emsigen Trippelschritten zwischen den Grabsteinen hindurch auf die Kirchentür zueilte, nickte Styx kurz nach rechts: »Sie können den Grabstein nicht erspähen von hier. Er befindet sich hinter den Büschen. Doch es hat den Anschein, dass wir ohnehin in die Kirche treten müssen, weil da ist …«
Er verstummte. Die Kirchentür öffnete sich mit vernehmlichem Quietschen. Die alte Dame schlüpfte hindurch, und Sekunden später erwachte im Kirchenraum elektrische Beleuchtung zum Leben.
Staunend trat Amadeo ein, legte den Kopf in den Nacken. Wenn er mit allem gerechnet hatte … Das Innere des kleinen Gotteshauses war ein Juwel. Auf einmal konnte er begreifen, warum der große Händel bereit gewesen war, das Engagement in einem winzigen Dorfkirchlein zu akzeptieren. Nein, das war kein Dorfkirchlein, ganz und gar nicht. Die Wände des Längsschiffs waren glatt und eben, doch Amadeo musste zwei- oder dreimal hinsehen, bis er das begriffen hatte.
»Trompe-l’œil-Malerei«, murmelte er.
Was aussah wie eine durch Arkaden, Säulen und halbrunde Nischen reich gegliederte Architektur, war in Wahrheit flach wie ein Brett. Wen auch immer der bombastbesessene Duke hier engagiert hatte: Diese Leute waren echte Meister gewesen. Allein in dem symbolüberladenen Figurenprogramm an Wänden und Decke von Händels Arbeitsplatz hätte man Dutzende codierter Anspielungen unterbringen können. Doch der Code des Komponisten war nicht sichtbar, er war nur hörbar, und wie von selbst wanderte Amadeos
Blick zu dem Instrument, an dem dieser Code - oder doch Teile von ihm - entstanden sein musste.
Die Orgel war wunderschön, wenn auch bescheiden in ihren Dimensionen. Dennoch waren die Maße - und mit Sicherheit auch der Klang - dem Kirchenraum genau angemessen, der nur durch die Malereien sehr viel gewaltiger wirkte, als er in Wahrheit war. Mit leuchtenden Augen betrachtete Styx das Instrument.
»Möchten Sie für uns musizieren?«, fragte ihre Führerin lächelnd.
Der Bassist keuchte, doch, scheinbar gegen seinen Willen, drehte er sich langsam um, ließ den Blick noch einmal durch den Kirchenraum schweifen. Er suchte etwas. Amadeo sah, wie sich seine Lippen bewegten, und wenn der Restaurator genau hinhörte, glaubte er einen leisen Summton zu hören . »Behold that stony arc, behold that stony arc.« Mit langsamen Schritten ging Styx auf die Orgel zu, die am entgegengesetzten Ende des Längsschiffs postiert war, durch eine niedrige Stufe vom Kirchenraum getrennt. Die Malereien sorgten dafür, dass der Blick geradezu magisch von dem Instrument angezogen wurde. Zu Hause in Italien
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