Das Babylon-Virus
Sakristei, machte keine Anstalten, sich von der Stelle zu rühren. Selbstverständlich trug er eine Waffe - sie war auf den Restaurator gerichtet. Und selbstverständlich war er nicht allein. Ein halbes Dutzend Pistolenläufe zielten auf Amadeo und seine Begleiter.
»Es ist wirklich nicht zu glauben. Kaum hat man einmal eine andere Frisur, schon erkennen einen die ältesten Freunde nicht wieder.« Bekümmert schüttelte Görlitz den
Kopf. »Aber du siehst ja sowieso nur, was man auf den ersten Blick erkennen kann. Du solltest wirklich lernen, die Kleinigkeiten im Auge zu behalten, mein Lieber. Hat dir das nicht schon Helmbrecht immer gesagt?«
Fragend sah er Amadeo an, bevor er im Plauderton anfügte:
»Zu seinen Lebzeiten?«
Camp Marmal, Afghanistan
»Wir müssen ihnen nach!« In Alyssas Augen lag ein Feuer, geboren aus Furcht und Verzweiflung. Ein Feuer, das keine Löschmannschaft dieser Welt würde unter Kontrolle bringen können, wie es nach mehr als einer Stunde mit den Bränden im Camp gelungen war.
»Ausgeschlossen im Moment.« Merthes’ Tonfall machte deutlich, dass die Entscheidung des Oberkommandos unumstößlich war. »Nicht vor Tagesanbruch. Die Drohnen haben sie im Blick, und die Nachtsichtgeräte liefern scharfe Bilder. Wir wissen, wohin sie unterwegs sind.«
In die Berge, dachte Rebecca. Quer durch die freie Wüste.
Die Aufständischen waren auf dem Rückzug. Den Streitkräften der internationalen Allianz war es am Ende gelungen, den Angriff zurückzuschlagen, doch da war es bereits zu spät gewesen.
Geiseln, dachte Rebecca. Es war vor ihren Augen geschehen, zwanzig Schritte entfernt, doch sie hatten nichts unternehmen können. Ein Schuss in das Handgemenge zu beiden Seiten der Barrikade hätte die Angreifer treffen können - aber ebenso gut einen der ISAF-Soldaten oder Fabio Niccolosi. General Stoltenbeck hatte seine Drohnen aufsteigen lassen, dazu zwei Tornados und sogar einen mit Leuchtmunition
ausgestatteten CH-53-Transporthubschrauber. Doch Merthes’ Vorgesetzter war ein zu kluger Mann, um in einer solchen Situation den Feuerbefehl zu geben. Ein halbes Dutzend seiner Männer wurde vermisst, dazu der Junge aus der officina . Das deutsche Militär war vorsichtig seit dem berüchtigten Vorfall in Kunduz, bei dem die Zahl der Getöteten unter den - mehr oder weniger - unbeteiligten Zivilisten höher gewesen war als unter den Angehörigen des Taliban-Kommandos.
»Sie haben sie mitgenommen«, versuchte Rebecca ihre Schwester zu beruhigen. »Hätten sie sie töten wollen, hätten sie das hier vor Ort erledigen können, das wäre einfacher gewesen. Sie wollten sie lebend. Wahrscheinlich werden sie morgen früh ihre Bedingungen …«
»Bedingungen? Was sollten sie denn von uns wollen? Sie brauchen doch nur abzuwarten, bis die Grippe uns erledigt hat!«
Sehe ich auch so aus, wenn ich wütend bin?, fragte sich Rebecca. Wer Alyssa ansah, konnte es jedenfalls gerade mit der Angst bekommen. Doch ihre Schwester war nicht einfach nur wütend. Was Rebecca in ihren Augen las, war Panik, blanke Panik.
Oberst Merthes nickte den Frauen noch einmal knapp zu und verließ dann wortlos den Wohncontainer, in den die beiden Schwestern zurückgekehrt waren.
»Gleich bei Tagesanbruch«, versprach Rebecca. »Sobald es hell wird. Wir wissen, wo sie sich verstecken. Wir werden ihnen folgen - zur Not wir beide allein.«
»Fabio.« Mit einem Mal trug Alyssas Gesicht wieder einen vollständig neutralen Ausdruck. Doch das war noch wesentlich schlimmer, denn ihr Tonfall bildete einen schmerzhaften Kontrast dazu. »Fabio.«
»Er ist …« Rebecca setzte neu an, suchte nach einer Formulierung,
die zumindest in ihren eigenen Ohren nicht hoffnungslos melodramatisch klingen würde. »Er spielt wirklich eine wichtige Rolle für dich«, sagte sie schließlich. »Nicht nur für den Auftrag.«
»Das kannst du nicht verstehen.« Die Antwort klang nicht feindselig, worauf sich Rebecca schon halbwegs eingestellt hatte. »Du kannst nicht verstehen, wie er ist. Er ist anders. Er ist … Er ist unschuldig . - Nein, nicht auf diese Weise!« Für einen Moment glomm nun doch etwas in ihren Augen auf, doch Rebeccas Nicken schien sie auf der Stelle zu beschwichtigen. »Wenn du gesehen hast, was ich gesehen habe … Diese ganze abgefuckte Welt, die Geheimdienste. Jeder tut seinen Job, und keiner fragt, ob es richtig ist, was wir tun. Im Grunde ist alles egal. Aber Fabio: Wenn du die Welt durch seine Augen siehst …« Die blonde Frau
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