Das Babylon-Virus
im
Moment. Und wenn ich höre, dass es doch noch junge Leute gibt, die sich für diese wunderschöne Musik begeistern können.« Mit seligem Lächeln schloss sie die Augen, summte die Melodie nach, wobei sie den Kopf hin und her wiegte. » Hmmm-hm-hm-hm-hm hm-hmmm. « Sie kicherte leise. »Und das gerade hier.«
Der Restaurator nickte. Die alte Dame war eine Plaudertasche, und jede Ablenkung bedeutete eine Verzögerung. Wir haben keine Zeit mehr , dachte er. Dennoch: Die Frau war krank, schnaubte schon wieder in ihr Taschentuch. Selbst wenn es ihm irgendwie gelingen sollte, an das Gegenmittel zu kommen: Wie lange würde es dauern, das Präparat in den Labors zu reproduzieren? Wie viele von den Menschen, bei denen die Krankheit bereits fortgeschritten war, würden überhaupt noch zu retten sein?
»Es ist schon etwas Besonderes«, sagte er leise. »Gerade hier, wo Händel selbst musiziert und komponiert hat.«
Die Dame nickte eifrig. »Das natürlich auch. Aber es ist eine seltsame Ironie, dass Sie gerade dieses Stück an genau dieser Stelle …«
»An genau dieser Stelle?« Eine Gänsehaut stellte sich auf Amadeos Rücken ein. »Dies ist eine besondere Stelle?«
Man hatte einen recht guten Blick auf die Tennisplätze von hier aus, mehr konnte man eigentlich nicht sagen über ihren gegenwärtigen Standort. Links von ihnen zog sich an der Rasenfläche entlang eine lange Baumreihe nach Süden, auf das Zentrum Londons und die dräuende Dunkelheit zu. Selbst die Tiere schienen die Nähe des Verhängnisses jetzt zu spüren. Die Vögel in den Zweigen der Bäume schwiegen.
»Aber natürlich!« Die Stimme der Alten war ein merkwürdiger Kontrast dazu. » Hmmm-hm-hm-hm-hm hm-hmmm. - Der erste Akt von Händels Agrippina . Die schweren Violinen … und dann Nerones große Arie: Qual piacer
a un cor pietoso . Wie er sich einschmeichelt beim römischen Volk. Wie er milde Gaben verteilt … Aber wir kennen unseren Nero ja.« Sie zwinkerte Amadeo zu.
Ob sie ihn als Italiener erkannt hatte? Amadeo bezweifelte es. In seiner Zeit in Weimar war er bei den meisten Leuten als Einheimischer durchgegangen. Doch die Andeutung der Frau verstand er natürlich. Nero, einer der finstersten römischen Kaiser, den das Volk wohl nur deswegen so lange ertragen hatte, weil er eben ein Experte gewesen war in Sachen Brot und Spiele. Wobei die Spiele natürlich blutige Zirkusspiele gewesen waren im Circus Maximus.
»Stellen Sie sich vor: Genau hier …« Die Dame deutete auf den Rasen zu ihren Füßen. »Genau hier stand zu Händels Zeiten die Skulptur eines Gladiators, vergoldet vermutlich. Das muss wunderschön ausgesehen haben, wie sie sich im Wasser des künstlichen Kanals spiegelte. Der ist natürlich auch nicht mehr da.«
Amadeo starrte auf den Rasen. Keine Spur mehr zu sehen von einer Skulptur, nicht einmal Reste des Fundaments oder auch nur Verfärbungen in der Vegetation, die darauf hindeutete, dass hier einmal etwas gestanden hatte.
Doch im frühen achtzehnten Jahrhundert hatte hier ein Gladiator Wache gehalten, Neros elementare Belustigung für den blutgierigen römischen Pöbel! Der exakte Gegenstand der Arie!
»Wir sind auf der richtigen Spur«, murmelte der Restaurator.
Styx hatte sich bereits aufgerappelt. »Indeed! Dann können wir fortfahren zur nächsten Station!« Aufgeregt nickte der Bassist.
»Station?« Die alte Dame hob die Augenbrauen. »Machen Sie eine Art …« Sie suchte nach dem richtigen Wort. »Geocaching? Meine Enkelsöhne sind ja ganz begeistert davon.
« Wieder kicherte sie, ein seltsam helles Kichern. »Als ich ein Kind war, haben wir das einfach Schnitzeljagd genannt.«
Amadeo biss sich auf die Lippen. Wenn er jetzt mit der Partitur rausrückte, würde das eine neue Verzögerung bedeuten. Andererseits schien die Frau sich hier auszukennen. Sie konnte ihnen helfen.
Doch er musste überhaupt nicht antworten. Die alte Dame redete bereits plappernd weiter. »Sie haben sich aber auch eine traumhafte Umgebung ausgesucht für Ihr Spiel.« Sie deutete in die Runde. Das Abendlicht tauchte die Bäume und weiten Rasenflächen in ein sanftes rötliches Licht. »Sehen Sie die Bäume? Das war damals die Hauptstraße hier. Die Whitchurch Avenue führte direkt an dieser Allee entlang - oder die Allee an der Avenue. Wenn der Duke und sein Hofstaat am Sonntag zur Kirche gingen, mussten sie genau diesen Weg nehmen. Malen Sie sich diese Pracht nur einmal aus! Die Herren mit ihren Perücken! Die Damen mit ihren
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