Das Babylon-Virus
schüttelte den Kopf. »Du kannst es nicht verstehen«, sagte sie noch einmal.
»Vielleicht besser als du denkst«, murmelte Rebecca. Was Alyssa erzählte, hätte eine Beschreibung Amadeos sein können. Amadeo, der sich für Dinge begeistern konnte, die andere Menschen nicht einmal zur Kenntnis nahmen. Der sich über einen tausend Jahre alten Codex freuen konnte wie ein kleines Kind über die neue Spielzeugeisenbahn. Der einem Geheimnis nachjagte, nicht etwa weil ihm jemand einen Auftrag erteilt hatte oder weil irgendwelche höheren Interessen davon abhingen, sondern ganz einfach, weil dieses Geheimnis da war.
»Unschuldig«, murmelte Rebecca. Das Wort klang merkwürdig genug im Zusammenhang mit einem siebzehnjährigen Azubi, mit dem ihre Schwester offenbar ins Bett ging. Aber war es nicht eigentlich viel bedenklicher, wenn es auf Rebeccas eigenen Partner ebenso gut passte, der sich der vierzig näherte?
»Wir holen Fabio zurück«, versprach sie, holte Luft. »Lässt du mich nach deinem Bein sehen?«
Alyssa zögerte einen Moment, stand dann wortlos auf und streifte vorsichtig ihre Hosen ab. Rebecca zuckte unwillkürlich zusammen, als sie das blutverschmierte Bein sah. Alyssa hätte niemals mit rauskommen dürfen vorhin. Durch die Anstrengung hatte sich die Wunde noch weiter geöffnet.
Rebecca griff in ihre Medizintasche, zog ein schmerzstillendes Präparat auf, das sie in mehreren Stichen rund um die Verletzung injizierte. Die Wunde musste genäht werden, doch das Mittel brauchte Zeit, um zu wirken.
Müde richtete Rebecca sich auf. Jetzt, da der Kampf vorbei war und der Nachschub an Adrenalin ausblieb, kam ihr auch wieder zu Bewusstsein, was sie ihrem eigenen Körper seit Tagen zumutete. Und doch ging es ihr im Augenblick noch immer besser als zu jedem anderen Zeitpunkt seit dem Abend in Südamerika. Die neue Naht an ihrem Oberschenkel hielt diesmal, und die Symptome der Grippe beschränkten sich dank Alyssas Wundermittel auf das vage Gefühl einer verstopften Nase und einen unangenehmen Geschmack ganz hinten auf der Zunge.
Die Grippe … Merthes hatte mit ihnen einen Rundgang durchs Lager gemacht, am frühen Abend, als die ISAF-Welt noch einigermaßen in Ordnung gewesen war. Er hatte ihnen das Lazarett gezeigt, die Krankenbaracken, in denen fast jedes Bett belegt gewesen war - mit Grippekranken.
Sie kriegen die Grippe nicht.
Eine Gänsehaut stellte sich auf Rebeccas Armen ein, als sie sich an die Worte des Obersts erinnerte. Die Bewohner der Wüste waren immun gegen die Grippe, oder aber sie besaßen ein bisher unbekanntes Heilmittel. Beides lief auf dasselbe hinaus: Sie waren auf der richtigen Spur.
»Ich muss mit Amadeo reden«, murmelte sie und langte in ihren Seesack. Seine neue Nummer war bereits in ihrem Gerät gespeichert.
Der Ruf ging raus. Irgendwo, ein paar tausend Kilometer entfernt, ertönte jetzt der Chor der Gefangenen aus Nabucco. Er ertönte … und ertönte … Schließlich sprang die Mailbox an, die sich lediglich mit einer Ansage der Nummer meldete. Amadeo war noch nicht dazu gekommen, einen persönlichen Text aufzusprechen.
Rebecca fuhr sich über die Lippen. »Ich bin’s«, sagte sie. »Bitte ruf mich zurück, sobald du kannst. Ich denke, wir bleiben wach.« Sie warf einen Blick auf ihre Schwester, die sie unverwandt betrachtete. »Ich … Ich vermisse dich«, sagte sie leise in die Sprechmuschel. Warum fiel ihr das so schwer in Alyssas Gegenwart? Sie drückte den Knopf, der den Anruf beendete.
»Er geht nicht ran«, wandte sie sich an die blonde Frau. »Seltsam eigentlich. In London ist es jetzt erst früher Abend.«
An diesem Morgen hatte er ihr auf dem Weg nach London eine SMS geschrieben, irgendwo über den Alpen, an Bord der Messerschmitt. Jetzt musste Rebecca an Stoltenbecks Worte denken, heute Nachmittag, kurz nach ihrer Ankunft. Der General hatte Bilder aus London gesehen, wo das Grippechaos anscheinend mit voller Gewalt ausgebrochen war. Hieß das, dass Amadeo in Gefahr war? Doch einen wirklich sicheren Ort gab es inzwischen sowieso nicht mehr. Nirgendwo auf der Welt. Die Grippe war überall.
Oder doch fast überall.
»Du hast das mitgekriegt vorhin?«, fragte Rebecca. »Die Afghanen kriegen die Grippe nicht.«
Alyssa nickte stumm.
»Ich frage mich, ob das für alle gilt«, murmelte Rebecca. »Alle Einheimischen hier in der Gegend - oder nur die
Leute aus den Bergen. Die Aufständischen.« Sie schüttelte den Kopf. »Du hast ja recht: Es ergibt keinen Sinn. Warum
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